Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Der Mann, der nicht Old Shatterhand war
Die Heldentaten aus seinen Abenteuerromanen habe er selbst in aller Welt vollbracht, sagt Karl May. Bis ihn Kritiker im hohen Alter zu seiner ersten echten Fernreise zwingen. Der neue Roman von Philipp Schwenke erzählt davon.
Ein Autor muss nicht seine eigene Hauptfigur sein – dass er diesen simplen Zusammenhang nicht verstehen wollte oder konnte, ist die große Tragödie, die Karl May (1842-1912) zugrunderichtete. Der Sohn einer armen Weberfamilie aus dem Erzgebirge hatte als Hochstapler, Betrüger und Dieb acht Jahre im Gefängnis verbracht, doch als Enddreißiger kreiert der bis dahin erfolglose Autor sein eigenes Genre, den Vorläufer der Superhelden-Story: Mays exotische Abenteuerromane mit wilden Kämpfen zwischen Gut und Böse verkaufen sich in aller Welt, bis heute knapp 200 Millionen Mal. Das hätten sie auch ohne eine so große wie leicht durchschaubare Lüge.
Der fleißige und disziplinierte, aber auch narzisstisch gestörte Mann hätte den ehrlich verdienten späten Ruhm und Reichtum genießen können. Wenn er sein sagenhaftes Maß an Fantasie nicht auch dazu genutzt hätte zu behaupten, er habe die in Sachsen erdachten Abenteuer höchstpersönlich erlebt, unter den Ehrennamen „Old Shatterhand“und „Kara Ben Nemsi“.
Als Blutsbruder von Apachenhäuptling Winnetou und Lehrer des Beduinen-Scheichs Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossara, stets unterwegs auf den edelsten Pferden und mit den zielsichersten Gewehren. Ungeschlagen im Reiten, Rennen und Schwimmen, Lassowerfen und Lauschen, im Karten- und Spurenlesen, in Geologie und Theologie, kurz: ein Universalgenie, überdies voller Kraft und Weisheit, Mut und Edelmut, Geschick und Güte, eine Kreuzung aus Chuck Norris, Robin Hood und Jesus Christus.
In seinem Streben, ja Lechzen nach Anerkennung verstieg sich May zu immer wilderen Behauptungen wie jener, dass er 600, 800, ach was, 1200 Sprachen und Dialekte verstehe – und die Menschen glaubten den Aufschneidereien des schwächlichen 1,70-Meter-Mannes, weil der sie offenbar selbst glaubte, ein Stückweit zumindest.
„Es ist eigentlich unmöglich zu sagen, hat er das zwischendurch mal eine halbe Stunde gedacht, oder ist er wirklich zehn Jahre lang wirklich mit dem Gedanken durch die Welt gelaufen ‚Ich bin dieser Held‘?“, sagt Autor Philipp Schwenke, Jahrgang 1978.
Der Journalist hat Mays teils erfunden anmutende echte Biographie – erwähnt seien etwa eine Affäre mit der Witwe seines besten Freundes sowie die detaillierte Planung seines Grabmals – für sein Buch „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“munter durch den Fantasie-Fleischwolf gedreht, als Remix sozusagen, ganz im Stile von Karl Friedrich May höchstpersönlich.
Dieser baute halb berauscht und halb aus Notwehr ein immer höheres Lügengebäude, das er mit immer prächtigeren in Lexika angelesenen Details schmückte – bis es im Jahr 1899 zu bröckeln begann. Journalisten und Leser stellten kritische Fragen, der tief verletzte May schimpfte unsouverän zurück. So trat der labile Schreiber, inzwischen 57 Jahre alt, seine erste echte Reise an; als Flucht nach vorn.
May suchte Abstand zu den Kritikern und seiner biestigen Gattin. Und fand auf der 16-monatigen Odyssee durch Afrika, Arabien und Asien vor allem seine eigenen Grenzen bei der Konfrontation mit fremden Orten, Menschen, Sprachen, Sitten und Speisen.
Von diesem Krieg der Welten in Mays Kopf, Herz und Seele insgesamt erzählt Schwenke hochvergnüglich. Unerbittlich, aber zugleich voll warmem Mitgefühl für diesen deutschen Don Quijote begleitet er Mays Fall. Auf fast 600 Seiten beschreibt er die Reise und ihre Folgen, kapitelweise abwechselnd und gesprenkelt mit urkomischen historischen Zeitungsartikeln und Briefen.
Selbst die von Amts wegen misstrauische Karl-May-Gesellschaft gibt dem Buch ihren Segen. Nicht nur die „äußerst solide Fundierung“mit biographischen Fakten loben die Fachleute. Auch Schwenkes offensive Interpretation der Figur Karl May selbst erwecke „durchaus den Eindruck“der Ähnlichkeit zum Vorbild. Mehr Ritterschlag geht nicht.
Der ganz besondere Ton, den Schwenke anschlägt, erinnert an die von ihm verehrten Großmeister der tragikomischen Groteske, die Filmemacher Joel und Ethan Coen („Fargo“, „The Big Lebowski“).
Abschließend sei Nick Hornby erwähnt, der auf dem Klappentext zitiert wird mit den Worten: „Eine wunderbare Idee, ich will diesen Roman unbedingt lesen! Hoffentlich hält der Brexit niemanden ab, ihn ins Englische zu übersetzen.“Schön, wenn er das gesagt hat. Noch schöner wäre, wenn Schwenke Hornby das Zitat einfach untergejubelt hätte. Es wäre eine Lüge im Sinne einer tieferen Wahrheit, dem Weltfrieden im weitesten Sinne. Das war Karl Mays Universal-Rechtfertigung.