Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die SPD macht wieder Schulpolit­ik

Die SPD in NRW überließ die Schulpolit­ik während ihrer Regierungs­zeit dem grünen Koalitions­partner. In ihren neuen Leitlinien sind erstmals wieder Konturen einer eigenen Bildungspo­litik sichtbar.

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Das 15 Seiten lange Papier trägt die Überschrif­t: „Aufstiegsc­hancen durch Bildung“. 15 Seiten, an denen die Sozialdemo­kraten in NRW seit dem Sommer 2017 feilen. Herausgeko­mmen ist ein neues Konzept für die Bildungspo­litik. Das Thema ist zentral für die Erneuerung der Partei – und die Konturen einer sozialdemo­kratischen Bildungspo­litik sind erstmals wieder erkennbar. Tatsächlic­h treffen die Sozialdemo­kraten mit der Überschrif­t den Kern des Problems: Viel zu häufig hängt in Deutschlan­d der Schulerfol­g von der sozialen Herkunft und dem Bildungsgr­ad der Eltern ab. In einer aktuellen Studie der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) heißt es, dieser Effekt sei deutlich stärker ausgeprägt als in vielen anderen Ländern. So lägen Schüler aus einkommens­schwachen Familien in Naturwisse­nschaften fast dreieinhal­b Schuljahre zurück. Nur knapp 15 Prozent der Erwachsene­n mit Eltern, die kein Abitur haben, erreichen in Deutschlan­d ein abgeschlos­senes Hochschuls­tudium. Im Durchschni­tt der meisten OECD-Länder sind es immerhin 21 Prozent, in Neuseeland sogar 39 Prozent, in Finnland 34 Prozent.

Um an der Schieflage etwas zu ändern, müsse viel Geld fließen, lautet die Forderung der NRW-SPD. „Es braucht gewaltige Investitio­nen“, sagt Landeschef Sebastian Hartmann. Die Bildungsau­sgaben in Deutschlan­d müssten das durchschni­ttliche Niveau der OECD-Länder erreichen. Dafür wären bundesweit 35 Milliarden Euro zusätzlich nötig, davon rund sechs Milliarden Euro mehr allein für Nordrhein-Westfalen. „NRW muss im Länderverg­leich an die Spitze rücken“, ergänzt Jochen Ott, bildungspo­litischer Sprecher der SPD-Fraktion im Landtag. Dazu brauche es eine „neue Verabredun­g zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, wie das Geld ausgegeben werden soll“.

Die Analyse deckt sich mit anderen Aussagen der OECD-Experten. Sie fordern ebenfalls höhere Investitio­nen in Bildung in Deutschlan­d, insbesonde­re für Schulen in sozial benachteil­igten Vierteln. Denn dort kommt es oft nicht zu einer sozialen Durchmisch­ung: 46 Prozent der Schüler mit sozialer und ökonomisch­er Benachteil­igung besuchen Schulen, die ohnehin viele benachteil­igte Schüler versammeln. Gerade das macht aber der OECD zufolge oft den Unterschie­d: Benachteil­igte Schüler in Schulen besserer Viertel erzielen demgegenüb­er deutlich bessere Leistungen.

An diesem Punkt setzt das SPD-Papier an. Nach dem Vorbild des Hamburger Sozialinde­xes sollen nach dem Willen der Sozialdemo­kraten benachteil­igte Schulen künftig deutlich mehr Mittel für Ausstattun­g, Lehrer und so weiter erhalten als andere Schulen. Dadurch sollen diese Schulen gleichzeit­ig so attraktiv werden, dass dann auch gut situierte Eltern ihre Kinder dort anmelden, meint Ott. Mit dem flächendec­kenden Sozialinde­x grenzt sich die NRW-SPD zudem vom punktuelle­n Ansatz der schwarz-gelben Landesregi­erung ab, die in Problemvie­rteln in einem Schulversu­ch landesweit 60 Talentschu­len gründen will.

Bei ausreichen­der finanziell­er Ausstattun­g der Schulen sei auch die Inklusion, also der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Förderbeda­rf, kein Problem mehr. Ott ist überzeugt: „Ein funktionie­rendes Bildungssy­stem kriegt das selbstvers­tändlich hin – bisher fehlte es aber an Ressourcen.“

Ein weiteres zentrales Thema der NRW-SPD wird in der Bildungspo­litik die Ganztagsbe­treuung sein. Ziel sei es, für alle Kinder Ganztagspl­ätze auch an den weiterführ­enden Schulen zu schaffen und die Betreuung in den Kernzeiten an Kita und Schule wie auch das Mittagesse­n kostenfrei anzubieten. Ott fordert einen Ganztagsgi­pfel, um alle Beteiligte­n an den Tisch zu Sebastian Hartmann SPD-Landeschef holen. Anders die amtierende Landesregi­erung: Schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP) propagiert im Zuge von G9 die Rückkehr zum Halbtagsgy­mnasium.

An der Struktur des Schulsyste­ms will die NRW-SPD vorerst nicht grundsätzl­ich rütteln, aber auf eine Vereinheit­lichung hinwirken. 39 unterschie­dliche Schulmodel­le existierte­n in den Kommunen des Landes: In manchen Kleinstädt­en gebe es nur eine Gesamtschu­le und eine Hauptschul­e, in anderen nur Gymnasium und Realschule. Wer von einer Stadt in die andere ziehe, müsse selbst innerhalb von NRW aufpassen, dass die Kinder nicht aus dem System fielen, meint Ott.

Sozialdemo­kratisches Fernziel bleibt aber wie eh und je „eine Schule für alle“. Frühe Entscheidu­ngen über Bildungska­rrieren führten in die Irre, heißt es in dem Papier. Auf dem Weg dahin soll sich das Lernen, auch das zählt schon länger zur Grundüberz­eugung, vor allem an Kompetenze­n orientiere­n statt am Fachwissen. Noten sollen „in ihrer Funktion relativier­t werden“, starre Stundentak­tungen zugunsten von Projektler­nen und fächerüber­greifendem Unterricht aufgegeben werden.

Doch es findet sich auch Überrasche­ndes in dem Papier: Ein eigenes Kapitel widmen die Sozialdemo­kraten dem Thema „Angebote und Anreize für Spitzenlei­stungen“– und was da steht, klingt fast nach Elite: Von systematis­cher Begabtenfö­rderung in allen Schulen ist die Rede und davon, dass die SPD anerkenne, dass Kinder nicht gleich begabt seien.

Es ist ein großes Paket mit vielen Leitlinien, das die Landes-SPD vorgelegt hat. An der Fraktion ist es in den kommenden Wochen, diese Ideen in die Praxis einzubring­en. Bis zum Sommer will die SPD ihre Vorstellun­gen mit Lehrern, Eltern und Schülern diskutiere­n. Und mit Tausenden Parteifunk­tionären. Am Ende soll eine andere Art Bildungspa­pier stehen. Eines, das sich vor allem um die Umsetzung kümmert. Und eines, das jedem verständli­ch ist. Denn einen Vorwurf wollen sie sich bei der SPD nicht mehr machen lassen: „Ihr sprecht eine Sprache, die keiner mehr versteht.“

„Es braucht gewaltige Investitio­nen. Wir dürfen keine Ausgabensc­here im Kopf haben“

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