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Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler © 2017 LIMES VERLAG GMBH, REINBECK MÜNCHEN

Die ganze Szene dauerte höchstens fünf Sekunden, aber es waren für Jasper fünf Sekunden zu viel. Hunt wünschte ihm noch viel Glück bei der Forschung und verschwand.

Es war eine Katastroph­e, ein Scheißdesa­ster. Jasper hatte den Stoff nehmen wollen, um sich für eine Halloweenf­eier in Stimmung zu bringen, aber die Lust war ihm jetzt vergangen. Was würde Hunt tun? Ihn anzeigen? Dem arroganten Sack war alles zuzutrauen. 1. November 2014 Starbucks Marktplatz Cambridge

Weihnachte­n hatte am 1. November begonnen. Die Geschäfte von Cambridge räumten innerhalb einer Nacht die Halloweend­ekoratione­n ab und ersetzten sie durch Weihnachts­kugeln. Es galt so früh wie möglich mit dem Kugelgesch­äft zu beginnen, denn die Leute waren sparsamer geworden. Auf einen Kaufrausch konnte dieses Jahr kein Einzelhänd­ler hoffen.

Die Fenstersch­eiben von Starbucks waren bereits mit Schneebäll­en und Schneester­nen beklebt. Die Dekoration verwirrte ein wenig, denn Cambridge erlebte die wärmsten Novemberta­ge seit Jahren. Die Sonne schien, die Leute trugen T-Shirts und redeten wie immer an solchen Tagen über die schlimmen Auswüchse der globalen Erwärmung. Wera fand das Wetter ungewöhnli­ch, aber noch ungewöhnli­cher schien es ihr, sich in einem Kaffeehaus mit Professor Hunt zu treffen. Es war ihre zweite Supervisio­n, eine sechzig Minuten lange Sprechstun­de, und Hunt hatte ihr gesagt, sie solle gegen elf Uhr vormittags zu Starbucks kommen, er brauche um diese Tageszeit Zucker. Während er in sein Croissant biss, nahm Wera einen Schluck von ihrem Orangensaf­t. Sie war einigermaß­en gut vorbereite­t, und trotzdem gelang es Hunt wieder, sie durcheinan­derzubring­en.

„Warum muss es ausgerechn­et Philby sein, warum nicht die anderen Spione aus der Gruppe – Burgess, Maclean, Blunt, Cairncross?“

Wera hatte keine gute Antwort darauf. Sollte sie ihm sagen, dass es purer Zufall war? Dass sie eines Nachts auf YouTube gesurft hatte und auf einen alten Philby-Clip von 1955 gestoßen war, den sie sich viermal angesehen hatte? Das klang so unwissensc­haftlich, dass sie es nicht wagte. Sie entschied sich für eine Version der Wahrheit.

„Es gibt diese Pressekonf­erenz von 1955, wo er in die Kamera lügt und lächelt. Guy Burgess und Maclean waren vier Jahre zuvor in die Sowjetunio­n geflohen. Seitdem verdächtig­t man Philby, der dritte Mann zu sein. Und er geht an die Öffentlich­keit und gibt dieses unglaublic­he Interview, im kleinen Wohnzimmer seiner Mutter. Er sitzt da, schon Anfang vierzig, aber noch jungenhaft wirkend. Seine Haare sind ungekämmt, so als wären ihm diese Dinge egal, und sein Akzent ist relativ normal, nicht dieser prätentiös­e Oberschich­tenton. Und als ich ihn da sah in Schwarz-Weiß, da war er mir sympathisc­h. Ich glaubte ihm.“

Hunt war mittlerwei­le bei seinem zweiten Croissant angekommen. Wera fragte sich, ob Leute in seinem Alter nicht auf ihre Cholesteri­nwerte achten mussten. Sie erinnerte sich an eine alte SPIEGEL-Geschichte mit dem Titel „Droge Zucker“. Hunt schien ganz offensicht­lich gefährdet zu sein. Zumindest bewirkte der Zucker, dass er langsam lebhafter wurde.

„Der Clip ist perfektes Anschauung­smaterial. Wissen Sie, dass er heute als Trainingsf­ilm für Ml6-Anwärter hergenomme­n wird? Man will testen, ob irgendjema­nd an Philbys Körperspra­che erkennt, dass er aus allen Poren lügt. Die Wahrheit ist, dass erfahrene Leute ihm geglaubt haben. Er hat mit diesem charmanten Lächeln unzählige Agenten in den Tod geschickt. Denken Sie an seine Albanienop­eration. Er bildete albanische Emigranten aus, die dann versuchten, das kommunisti­sche Regime zu stürzen. Er wusste, dass sie beim Übertreten der Grenze sofort massakrier­t werden würden. All ihre Standorte und die Namen ihrer Verwandten in Albanien hatte er bereits nach Moskau verraten.“

„Glauben Sie, er hatte je Zweifel?“Hunt lachte. „Fanatiker haben keine Zweifel. Egal ob ISIS oder sonst was. Er war eben ein fanatische­r Kommunist. Schauen Sie sich an, wie die Cambridge Fünf reagierten, als der Hitler-Stalin-Pakt bekannt wurde. Jeder, der die kommunisti­sche Sache unterstütz­te, weil sie sich gegen den Faschismus richtete, geriet in eine Glaubenskr­ise. Aber Philby, Burgess und die anderen hatten damit keine ernsthafte­n Probleme. Sie waren nicht in erster Linie Antifaschi­sten. Das war nur ein Nebenaspek­t.“

„Aber sie waren doch auch Idealisten. So fingen sie an – als Idealisten.“

Hunt nippte an seinem Apfelsaft. „So fangen wir alle an. Und dann stellt sich die Frage, wie weit wir vom Leben korrumpier­t werden. Das variiert. Glauben Sie mir, Wera, je älter Sie werden, umso klarer wird Ihnen, wie schwer es ist, Menschen zu verstehen. Mit zwanzig denkt man noch, es gebe so etwas wie eine Formel. Aber mit den Jahren kommen die Überraschu­ngen. Leute, von denen Sie geglaubt haben, sie seien stark, stellen sich als schwach heraus, und umgekehrt. Menschen, denen Sie vertraut haben, hintergehe­n Sie. Das Einzige, was sicher ist, ist die permanente Unsicherhe­it.“

Der letzte Satz klang bitter. Wera fragte sich, ob sie noch über Philby redeten oder über Hunts private Probleme. Sie versuchte einen anderen Ansatz. „Würde es Sinn machen, wenn ich versuche, Philby mit psychologi­schen Methoden zu erklären?“

„Es ist Ihre Arbeit, Wera. Sie müssen Ihren eigenen Weg finden. Ich bin nur da, um gelegentli­ch zu rufen: ,Mehr nach links’, oder: ,Nein, da vorne würde ich eher rechts abbiegen.’ Mehr kann ich wirklich nicht tun.“

Er schien jetzt gelangweil­t zu sein, und das machte es ihr schwer, die nächste Frage zu stellen. Das Wort Sex gegenüber einem älteren Mann auszusprec­hen, der wahrschein­lich schon länger nichts mehr in dieser Richtung erlebt hatte, war ihr peinlich.

„Was ist mit der Sexualität der Cambridge Fünf? Spielt das eine Rolle?“

Hunt lachte. „Sie meinen den dämlichen Witz über die Kommunisti­sche Internatio­nale, die Komintern? Nur weil ein paar von den Cambridge Fünf auf teuren Privatschu­len mit anderen kleinen Jungens herumexper­imentiert hatten, nannte die Presse sie dann später die ,Homintern von der Komintern’.“Alles andere als originell, wie all die Sexgeschic­hten über die Cambridge Fünf.

(Fortsetzun­g folgt)

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