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Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Die ganze Szene dauerte höchstens fünf Sekunden, aber es waren für Jasper fünf Sekunden zu viel. Hunt wünschte ihm noch viel Glück bei der Forschung und verschwand.
Es war eine Katastrophe, ein Scheißdesaster. Jasper hatte den Stoff nehmen wollen, um sich für eine Halloweenfeier in Stimmung zu bringen, aber die Lust war ihm jetzt vergangen. Was würde Hunt tun? Ihn anzeigen? Dem arroganten Sack war alles zuzutrauen. 1. November 2014 Starbucks Marktplatz Cambridge
Weihnachten hatte am 1. November begonnen. Die Geschäfte von Cambridge räumten innerhalb einer Nacht die Halloweendekorationen ab und ersetzten sie durch Weihnachtskugeln. Es galt so früh wie möglich mit dem Kugelgeschäft zu beginnen, denn die Leute waren sparsamer geworden. Auf einen Kaufrausch konnte dieses Jahr kein Einzelhändler hoffen.
Die Fensterscheiben von Starbucks waren bereits mit Schneebällen und Schneesternen beklebt. Die Dekoration verwirrte ein wenig, denn Cambridge erlebte die wärmsten Novembertage seit Jahren. Die Sonne schien, die Leute trugen T-Shirts und redeten wie immer an solchen Tagen über die schlimmen Auswüchse der globalen Erwärmung. Wera fand das Wetter ungewöhnlich, aber noch ungewöhnlicher schien es ihr, sich in einem Kaffeehaus mit Professor Hunt zu treffen. Es war ihre zweite Supervision, eine sechzig Minuten lange Sprechstunde, und Hunt hatte ihr gesagt, sie solle gegen elf Uhr vormittags zu Starbucks kommen, er brauche um diese Tageszeit Zucker. Während er in sein Croissant biss, nahm Wera einen Schluck von ihrem Orangensaft. Sie war einigermaßen gut vorbereitet, und trotzdem gelang es Hunt wieder, sie durcheinanderzubringen.
„Warum muss es ausgerechnet Philby sein, warum nicht die anderen Spione aus der Gruppe – Burgess, Maclean, Blunt, Cairncross?“
Wera hatte keine gute Antwort darauf. Sollte sie ihm sagen, dass es purer Zufall war? Dass sie eines Nachts auf YouTube gesurft hatte und auf einen alten Philby-Clip von 1955 gestoßen war, den sie sich viermal angesehen hatte? Das klang so unwissenschaftlich, dass sie es nicht wagte. Sie entschied sich für eine Version der Wahrheit.
„Es gibt diese Pressekonferenz von 1955, wo er in die Kamera lügt und lächelt. Guy Burgess und Maclean waren vier Jahre zuvor in die Sowjetunion geflohen. Seitdem verdächtigt man Philby, der dritte Mann zu sein. Und er geht an die Öffentlichkeit und gibt dieses unglaubliche Interview, im kleinen Wohnzimmer seiner Mutter. Er sitzt da, schon Anfang vierzig, aber noch jungenhaft wirkend. Seine Haare sind ungekämmt, so als wären ihm diese Dinge egal, und sein Akzent ist relativ normal, nicht dieser prätentiöse Oberschichtenton. Und als ich ihn da sah in Schwarz-Weiß, da war er mir sympathisch. Ich glaubte ihm.“
Hunt war mittlerweile bei seinem zweiten Croissant angekommen. Wera fragte sich, ob Leute in seinem Alter nicht auf ihre Cholesterinwerte achten mussten. Sie erinnerte sich an eine alte SPIEGEL-Geschichte mit dem Titel „Droge Zucker“. Hunt schien ganz offensichtlich gefährdet zu sein. Zumindest bewirkte der Zucker, dass er langsam lebhafter wurde.
„Der Clip ist perfektes Anschauungsmaterial. Wissen Sie, dass er heute als Trainingsfilm für Ml6-Anwärter hergenommen wird? Man will testen, ob irgendjemand an Philbys Körpersprache erkennt, dass er aus allen Poren lügt. Die Wahrheit ist, dass erfahrene Leute ihm geglaubt haben. Er hat mit diesem charmanten Lächeln unzählige Agenten in den Tod geschickt. Denken Sie an seine Albanienoperation. Er bildete albanische Emigranten aus, die dann versuchten, das kommunistische Regime zu stürzen. Er wusste, dass sie beim Übertreten der Grenze sofort massakriert werden würden. All ihre Standorte und die Namen ihrer Verwandten in Albanien hatte er bereits nach Moskau verraten.“
„Glauben Sie, er hatte je Zweifel?“Hunt lachte. „Fanatiker haben keine Zweifel. Egal ob ISIS oder sonst was. Er war eben ein fanatischer Kommunist. Schauen Sie sich an, wie die Cambridge Fünf reagierten, als der Hitler-Stalin-Pakt bekannt wurde. Jeder, der die kommunistische Sache unterstützte, weil sie sich gegen den Faschismus richtete, geriet in eine Glaubenskrise. Aber Philby, Burgess und die anderen hatten damit keine ernsthaften Probleme. Sie waren nicht in erster Linie Antifaschisten. Das war nur ein Nebenaspekt.“
„Aber sie waren doch auch Idealisten. So fingen sie an – als Idealisten.“
Hunt nippte an seinem Apfelsaft. „So fangen wir alle an. Und dann stellt sich die Frage, wie weit wir vom Leben korrumpiert werden. Das variiert. Glauben Sie mir, Wera, je älter Sie werden, umso klarer wird Ihnen, wie schwer es ist, Menschen zu verstehen. Mit zwanzig denkt man noch, es gebe so etwas wie eine Formel. Aber mit den Jahren kommen die Überraschungen. Leute, von denen Sie geglaubt haben, sie seien stark, stellen sich als schwach heraus, und umgekehrt. Menschen, denen Sie vertraut haben, hintergehen Sie. Das Einzige, was sicher ist, ist die permanente Unsicherheit.“
Der letzte Satz klang bitter. Wera fragte sich, ob sie noch über Philby redeten oder über Hunts private Probleme. Sie versuchte einen anderen Ansatz. „Würde es Sinn machen, wenn ich versuche, Philby mit psychologischen Methoden zu erklären?“
„Es ist Ihre Arbeit, Wera. Sie müssen Ihren eigenen Weg finden. Ich bin nur da, um gelegentlich zu rufen: ,Mehr nach links’, oder: ,Nein, da vorne würde ich eher rechts abbiegen.’ Mehr kann ich wirklich nicht tun.“
Er schien jetzt gelangweilt zu sein, und das machte es ihr schwer, die nächste Frage zu stellen. Das Wort Sex gegenüber einem älteren Mann auszusprechen, der wahrscheinlich schon länger nichts mehr in dieser Richtung erlebt hatte, war ihr peinlich.
„Was ist mit der Sexualität der Cambridge Fünf? Spielt das eine Rolle?“
Hunt lachte. „Sie meinen den dämlichen Witz über die Kommunistische Internationale, die Komintern? Nur weil ein paar von den Cambridge Fünf auf teuren Privatschulen mit anderen kleinen Jungens herumexperimentiert hatten, nannte die Presse sie dann später die ,Homintern von der Komintern’.“Alles andere als originell, wie all die Sexgeschichten über die Cambridge Fünf.
(Fortsetzung folgt)