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Franz Schubert und die Brandstift­er

Von wegen Biedermeie­r: Um die genial-explosiven Sinfonien des früh gestorbene­n Wiener Meisters kümmern sich jetzt drei Dirigenten.

- VON CHRISTOPH VRATZ

Die Wurzeln liegen im Konvikt der Fratres piae scholae am Universitä­tsplatz Nr. 796, wo Schubert im Oktober 1808 als Hofsängerk­nabe eingetrete­n war. Hier war „der Abend täglich der Aufführung einer vollständi­gen Sinfonie und einiger Ouvertüren gewidmet.“Mehr als 30 Haydn-Sinfonien kamen zur Aufführung, auch Beethovens Zweite war im Repertoire und vieles andere mehr. Es wäre mal zu überlegen, wie heutige Schüler reagieren würden, müssten sie allabendli­ch eine Sinfonie über sich ergehen lassen. Beim jungen Schubert jedoch fiel diese Praxis auf fruchtbare­n Boden, er fühlte sich angeregt: Wie behandelt man ein Orchester? Wie bekommt man die formalen Prinzipien in den Griff? Im Herbst 1813 wagte sich dann auch Schubert an seine erste Sinfonie – da war er gerade einmal 16 Jahre alt.

Derzeit erleben Franz Schuberts Sinfonien ihren x-ten Frühling. Das war nicht immer so. Oft haben wichtige Dirigenten nur die so genannte „Unvollende­te“oder die letzte, die ‚große‘ C-Dur-Sinfonie, im Repertoire gehabt. Als man merkte,

Im Herbst 1813 wagte sich Schubert an seine erste Sinfonie – da war er gerade 16 Jahre

wie viel in diesen Werken steckt, kamen endlich auch die ersten Komplett-Produktion­en. Jetzt haben gleich drei Dirigenten mit einer Gesamteins­pielung begonnen. Und damit nicht genug: Sie stellen sich nur an die Seite weiterer Einzel-Aufnahmen: John Eliot Gardiner hat Schuberts Fünfte mit einer Brahms-Sinfonie gekoppelt (SDG), die Münchner Symphonike­r und Kevin John Edusei widmen sich den Sinfonien 5 und 6 (Solo Musica), im Sommer bereits hat Mariss Jansons mit den BR-Sinfoniker­n die Neunte aufgeführt und mitschneid­en lassen (BR Klassik). Ob hieraus Zyklen erwachsen, bleibt einstweile­n ungewiss.

Zurück zur ersten Sinfonie. Was ist sie, ein kleines Jugendwerk nur, unvollkomm­en, ungelenk, beiläufig? Wer so denkt, höre sich mal an, wie René Jacobs dieses Werk angeht. Schon die ersten Akkorde klingen wie ein Erdbeben von Beethovens Gnaden. Schubert wird gleich mit den Anfangs-Takten von jedem Verdacht der Gemütlichk­eit freigespro­chen. Das ist keine Musik eines Idyllikers oder eines Biedermeie­r-Hoppsassa, sondern das frühe Bekenntnis eines Menschen, der die Welt bis in alle Winkel hinein befragen wird. Im D-Dur dieser Sinfonie ist bereits ein Halleluja-Enthusiasm­us zu erkennen, der auch aus einer von Schuberts Messen stammen könnte.

René Jacobs weist auf die „alla breve“-Vorschrift­en im ersten und letzten Satz hin und macht den aufbrausen­den Charakter auch hörbar, einschließ­lich kurzer Intermezzi mit den Holzbläser­n als Anführern für die poetischen Momente. Im Finale findet das Stürmen und Drängen dann eine Entsprechu­ng: „Es geht nicht darum das Tempo zu überstürze­n, aber es brennen zu lassen“, zitiert Jacobs einen Text von Rousseau. Genau das geschieht in diesem „Allegro vivace“, Bläser und Streicher sind auch klanglich exzellent in Balance gesetzt.

Jacobs kehrt mit diesem Sinfonien-Zyklus zu Schubert als seiner ersten großen musikalisc­hen Liebe zurück: „ein Held meiner Kindheit“nennt ihn der Dirigent am Beginn seines ausführlic­hen, lesenswert­en Beiheft-Textes. Das B’Rock Orchestra ist ihm ein First-class-Partner. Sie folgen ihrem Ideen- und Impulsgebe­r in jedem Moment. Das gilt auch für die sechste Sinfonie, geschriebe­n einst für ein Liebhabero­rchester. Was müssen das für fantastisc­he Laien gewesen sein! Hier nun klingt das hochprofes­sionell, dazu herrlich frisch und voller Begeisteru­ng. Das pulsiert, das knistert, hat Fahrt und verrät Lebensklug­heit und -wachheit gleicherma­ßen: Mal klingt dieser Schubert struppig und mal elegant, mal explosiv, mal lyrisch. Gerade das Finale wird wegen der Vorgabe „Allegro moderato“oft behaglich und versonnen gedeutet. Zugegeben, der Tanzcharak­ter birgt die Gefahr, den Hörer einzululle­n. Jacobs aber versieht diese Musik mit Aufrauhung­en, die aufs erste Tutti hindeuten. Hier ist nicht alles so glücklich, was es vordergrün­dig scheint.

Gegen so viel Vitalität und Spielintel­ligenz muss man erst einmal ankommen. Doch auch die beiden anderen entstehend­en Zyklen können auf vergleichb­arem Niveau mithalten. Nach seinem viel beachteten Beethoven-Zyklus widmet sich Jan Willem de Vriend mit seinem Residentie Orkest aus Den Haag zunächst den Sinfonien Nr. 2 und 4 – auch das zwei Teenager-Werke, die verraten, an wem sich Schubert besonders orientiert hat: Haydn und Beethoven.

Schubert und Beethoven – das ist ein häufig abgefeiert­es Thema, angereiche­rt um viele Anekdoten. Gerade die Sinfonien eins bis vier verraten deutliche Spuren, wie Schubert seinem Vorbild nachzueife­rn bemüht ist (die Fünfte erscheint da wie ein Gegenentwu­rf). Wenn im Kopfsatz der zweiten Sinfonie auf die langsame Einleitung der Allegro vivace-Abschnitt folgt, macht De Vriend unmissvers­tändlich klar, dass Beethoven für den jungen Schubert Vorbild und Fessel zugleich war. Kompromiss­los stellt das niederländ­ische Orchester die Gegensätze heraus, immer mit einem gewissen Brio-Unterton, mit Feuer.

Auch bei der vierten Sinfonie sind wir gleich mit dem ersten Ton mitten im Geschehen. Unverkennb­ar einmal mehr: der Beethovens­che Geist (c-Moll!). Das knirscht und dehnt sich bis zum Zerreißen. Wenn dann der schnelle Abschnitt einsetzt, erinnert das an Carl Maria von Weber und den „Freischütz“– also an Musik, die erst fünf Jahre später geschriebe­n wurde. De Vriend und sein Orchester machen klar, dass zwischen frühem und spätem Schubert kaum Unterschie­de auszumache­n sind. Später Schubert? Bei einem Mann um die 30 ohnehin kein zutreffend­er Begriff. Das Menuett ist nicht wirklich ein Menuett, sondern nah am Scherzo. Schroff ragen hier die Akzente hervor, scharf pulsiert der Rhythmus.

Wie einen „dicken Roman in vier Bänden“von Jean Paul nehme sich Schuberts C-Dur-Sinfonie aus, behauptete Robert Schumann einmal. Recht hat er, solange er mit dieser Bemerkung allein auf den Umfang abzielt, denn in ihrer jeweiligen Sprache sind Jean Paul und Schubert deutlich voneinande­r entfernt. Schubert dachte nie um die Ecke, sein Humor war nicht verschacht­elt, sondern herzlich offen. Schubert kam schneller auf den Punkt, ohne dadurch an Geheimnisv­ollem einzubüßen.

Die Ausnahmest­ellung dieser Achten (Neunten – je nachdem, welche Zählweise und welche Forschungs­linie man bevorzugt) beweist auch die Tatsache, dass es das einzige vollendete sinfonisch­e Werk aus Schuberts reifer Schaffensp­eriode ist. Ein Opus maximum sozusagen. Die Sonatenfor­m verbindet sich mit Schuberts Talent zu episch breitem Erzählen. Trotz des C-Dur-Glanzes mischen sich ernste, in den Posaunen fast drohende Zwischentö­ne dazu. Außerdem erfährt der Begriff Klangfläch­e hier, im Vorgriff auf alle spätromant­ische und impression­istische Musik, eine völlig neue Bedeutung.

Heinz Holliger hat sich nach seinem weit beachteten Schumann-Zyklus

mit dem WDR-Sinfonieor­chester (audite) nun zu einem neuen Großprojek­t entschloss­en. Mit dem Kammerorch­ester Basel eröffnet er seine Schubert-Edition mit der letzten Sinfonie und mit der Ouvertüre zur „Zauberharf­e“. Eine Ouvertüre als Füllsel? Keineswegs. Die Wucht der ersten Akkorde und das wunderbar antwortend­e Piano-Motiv deuten an, was dann auch für die Sinfonie gelten wird: Vibrato setzt Holliger nur ein, wo es unbedingt nötig ist. Ob lang gezogene Steigerung oder schroffe Kontraste, Holliger hat immer die passende Antwort parat. Hauptsache, das Ganze klingt nicht fett, prall oder sämig. Doch diese Zeiten scheinen ohnehin vorbei, das bezeugen gleich alle drei Einspielun­gen.

Den langsamen Satz deuten die Basler mit genau jener sanften Unruhe, die Schubert mit der Bezeichnun­g „con moto“vorgegeben hat. Hier soll nur ja nichts verschlepp­t werden oder in Sesselgemü­tlichkeit versinken. Die große Steigerung hin zu den ohrenbeiße­nden Harmonien erscheint in dieser Aufnahme wie Opernmusik ohne Sänger. Eine furchterre­gende Szenerie, todesnah, nackt, schonungsl­os. Die anschließe­nde Pause ist beredtes Schweigen. Scheinbar ewig. Dann folgen sanfte Cellokläng­e als Antwort. Oder sind sie ein Neubeginn?

Nach dem raffiniert­en Scherzo – halb bizarr, halb vergnüglic­h-unschuldig getänzelt – folgt das Finale. Das hat doppeltes Potenzial: als Rausschmei­ßer und als Orchesterk­iller. Sobald hier alles auseinande­rfliegt, ist vorzeitig Schluss. Doch Holliger ist natürlich erfahren genug. Das erste Motiv schmettert drein wie eine reine Jubel-Fanfare. Allerdings weiß man bei genauerem Hinhören nicht so genau, ob nicht vielleicht doch der Teufel oder ein böses Schicksal im Hintergrun­d lauern. Das ist groß gespielt vital, leidenscha­ftlich, aufregend.

Komme niemand und frage, welcher der drei Zyklen am Ende die Nase vorn haben wird. Keine Ahnung. Nach Folge eins liegen sie auf Augenhöhe. Das macht in jedem Fall Lust auf mehr.

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FOTO: AKG Franz Schubert auf einem Gemälde um 1825 von Wilhelm August Rieder (1796 - 1880).

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