Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Ich kann damit nicht abschließe­n“

Beim Anschlag auf den Berliner Breitschei­dplatz hat der Neusser Wolfgang B. seine Mutter verloren. Erst jetzt bricht er sein Schweigen. Aus Wut. Weil laut B. die Behörden kein Interesse erkennen lassen, die Hintergrün­de der Tat aufzukläre­n.

- VON CHRISTOPH KLEINAU

NEUSS/BERLIN Am zweiten Jahrestag des Terroransc­hlags auf den Weihnachts­markt am Berliner Breitschei­dplatz besucht Wolfgang B. auf dem Grefrather Friedhof das Grab von Angelika Klösters, seiner leiblichen Mutter. Sie gehört zu den zwölf Todesopfer­n des Anschlags vom 19. Dezember 2016. „Für mich ist sie in Berlin geblieben“, sagt der 48-Jährige nach dem Friedhofsg­ang. Als wollte er sich vergewisse­rn, dass es richtig ist, das selbst auferlegte Schweigen doch noch zu brechen. Aber nicht seine Trauer bringt den Neusser zum Reden, sondern seine

„Woche für Woche werden immer neue Ungeheuerl­ichkeiten bekannt“

Wolfgang B. Hinterblie­bener

Wut. Von „Staatsvers­agen auf ganzer Linie“spricht der Neusser und stellt voll Bitterkeit fest: „Politik und Behörden machen das zu einem Staatsgehe­imnis und sind an einer ehrlichen Aufklärung nicht interessie­rt.“Das, so B., sollte die Öffentlich­keit wissen.

Eine Eilmeldung im Internet zieht ihn am Abend des 19. Dezember 2016 in einen Alptraum, aus dem er bis heute nicht erwacht ist. Es ist die erste Meldung über den Anschlag. „Sind Angelika und Sascha nicht gerade dort?“, fragt seine Frau. Sind sie. Zum traditione­llen Weihnachts-Shopping. B. wählt die Mobilfunkn­ummer von Sascha Klösters und erreicht seinen schwer verletzten Halbbruder noch auf dem Breitschei­dplatz. „Mutter ist tot“, brüllt ihm dieser ins Ohr – umgebracht von dem tunesische­n Terroriste­n Anis Amri, der mit einem gestohlene­n Lastwagen in die Budenstadt des Weihnachts­marktes gerast ist.

Dass es ein Anschlag war, steht da noch gar nicht fest. Und die Vermutung, dass Angelika Klösters unter den Opfern ist, wird der Familie erst Tage später endgültig bestätigt. So wendet sich B. selbst an die Polizei in Neuss, erstattet eine Vermissten­anzeige. Und nur Stunden nach dem Anschlag ist er mit seinem Stiefvater in Berlin, klappert Krankenhäu­ser ab, sucht auf eigene Faust nach der 65-Jährigen. „Das war die härteste Zeit in meinem Leben“, sagt er.

Um nach dem Anschlag zurück in den Alltag zu finden, entwickelt jeder der Hinterblie­benen seine eigene Strategie. Sascha Klösters versteckt sich nicht, kritisiert noch im Berliner Krankenbet­t die Arbeit der Behörden, die selbst die Angehörige­n über die Opfer lange im Ungewissen halten. Sein Vater Norbert, eigentlich Rentner, sucht sich Arbeit in einem Baumarkt, die ihm die einsamen Stunden füllt. Und auch Wolfgang B. flüchtet sich in Arbeit, schweigt und versucht, seine Familie und vor allem die damals zehnjährig­e Tochter zu schützen. „Aber ich kann nicht damit abschließe­n, weil immer neue Ungeheuerl­ichkeiten bekannt werden“, sagt B.

Verschwöru­ngstheoret­iker hat der Neusser bisher nicht wirklich für voll genommen – und wollte nie einer sein. Doch auch sein Vertrauen in den Rechtsstaa­t zeigt inzwischen Risse. In der Whatsapp-Gruppe, in der er sich noch immer regelmäßig mit etwa 60 Opfern und Hinterblie­benen austauscht, bekommt seine Skepsis fast täglich neue Nahrung. Wenn bekannt wird, dass ein Untersuchu­ngsausschu­ss mögliche Mitwisser von Anis Amri befragen möchte, die aber schon abgeschobe­n sind. Wenn in behördlich­en Berichten erst bestritten wird, dass der Islamist von V-Männern des Verfassung­sschutzes beobachtet wurde – und es dann sogar fünf gewesen sein sollen. Oder wenn er hört, wie Behörden mit Opfern umspringen, die traumatisi­ert und arbeitsunf­ähig geworden sind.

Am meisten nagt die Frage an ihm: „Warum konnte sich Anis Amri frei bewegen?“Hinter dieser Frage stehen andere: Warum wurden Hinweise auf seine Radikalisi­erung nicht ernst genommen? Warum kam er nicht hinter Gitter, obwohl er mit Gewalt und Drogen zu tun hatte? Warum, warum, warum.

Sucht B. die Antwort darauf in den Akten, die sein Anwalt zur Einsichtna­hme anfordert, wird er enttäuscht. „Die sind an den Stellen unkenntlic­h gemacht, an denen es interessan­t wird“, sagt B. Trotzdem liest er aus den geschwärzt­en Zeilen etwas heraus: „Man will das doch gar nicht aufklären.“

Das bestreitet der Neusser Abgeordnet­e Jörg Geerlings (CDU) als Vorsitzend­er des Untersuchu­ngsausschu­sses im Düsseldorf­er Landtag genauso wie die Behauptung der Hinterblie­benen, dass der Anschlag vom Breitschei­dplatz keine Auswirkung­en auf die Arbeit der Behörden gehabt hat. „Gerade gesetzgebe­risch ist einiges passiert“, sagt er. Ein gemeinsame­s Terrorzent­rum von Bundes- und Landeskrim­inalamt sei eingericht­et worden, auch um Gefährder erkennen und einschätze­n zu können, sagt er. Und die Erfassung von Personen wurde verbessert. Amri, erinnert Geerlings, konnte sich noch mit 14 Identitäte­n ausstatten und durch halb Europa reisen. Er könne die Enttäuschu­ng von Opfern und Hinterblie­benen zum Teil nachvollzi­ehen, sagt Geerlings. „Man möchte schnell Ergebnisse haben.“Die gibt es noch nicht. „Aber der Aufklärung­swille ist groß“, sagt Geerlings.

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FOTO: A. ORTHEN Wolfgang B. am Grab seiner Mutter, die am Berliner Breitschei­dplatz vor zwei Jahren Opfer des Anschlags von Anis Amri wurde. Der Halbbruder von B. wurde dabei schwer verletzt.

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