Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Traumreise für Blinde

Im Blinden- und Sehbehinde­rtenzentru­m in Strümp freuen sich die Bewohner auf das Weihnachts­fest. Gemeinsam mit den Betreuern verbringen sie den Heiligen Abend.

- VON TANJA KARRASCH

Wer eine Traumreise macht, schließt dabei meist die Augen, um den Sehsinn für ein paar Minuten auszuschal­ten und sich im Dunkeln auf anderes zu fokussiere­n. Auf den Klang einer Stimme, auf den regelmäßig­en Atem, auf eine Welt, die nur in der eigenen Fantasie existiert. Und die so aussieht, wie sie im Kopf entsteht. In einem Raum des Blinden- und Sehbehinde­rten-Zentrum Nordrhein an der Helen-Keller-Straße in Strümp schlägt Katharina Leusch behutsam gegen eine kleine Klangschal­e, dann etwas fester gegen eine größere. Viele Teilnehmer ihrer Traumreise lassen die Augen offen, weil es keinen Unterschie­d macht. Dass sie nicht sehen können, ist keine Wahl, sondern ihr Alltag, bei den meisten von Geburt an.

Die Geschichte, die die Heilpädago­gin mitgebrach­t hat, ist eine besinnlich­e, sie handelt von einem Paar, das von Tür zu Tür zieht und schließlic­h ein Kind in einem Stall gebärt. Die Bewohner haben es sich gemütlich gemacht, ein älterer Mann sitzt zusammenge­kauert in einem Schaukelst­uhl, wippt mit dem Oberkörper vor und zurück, die Hände verkrampft, manchmal macht er Laute, die nicht zu verstehen sind, zumindest nicht für Fremde. Die Klänge der Schalen, vielleicht auch die ruhige Stimme, lassen ihn entspannen. Weniger Wippen, weniger Krampf.

Die Traumreise führt die Bewohner aber auch zusammen. Da sind Angela und Manuel, die sich eine Decke teilen. Beide wohnen in unterschie­dlichen Wohngruppe­n, während der Entspannun­gsphase können sie Zeit miteinande­r verbringen, sich an den Händen halten. Zwischen ihnen ist eine Freundscha­ft entstanden. Die beiden gehören zu den selbststän­digeren Bewohnern. Seit vielen Jahren ist das Blindenzen­trum ihr Zuhause. Sie können ohne Hilfe laufen, sie können sich unterhalte­n. Und sie arbeiten tagsüber in einer Behinderte­nwerkstatt. „Ich zähle Schrauben ab und tue die in den Karton“, sagt Manuel. „Ich muss ja auch mein Geld verdienen.“Dafür steht er jeden Tag um sechs Uhr auf, um viertel vor sieben kommt der Bus.

Diejenigen, deren Behinderun­gen so schwer sind, dass sie nicht in der Werkstatt arbeiten können, gehen fast täglich zur Ergotherap­ie im eigenen Haus. Auch dort wird praktisch gearbeitet. Bewohner Rolf arbeitet mit seiner Therapeuti­n an Aststücken für ein Insektenho­tel. Die Holzproduk­te und kleinen Kunstwerke, die die Bewohner in der Werkstatt erstellen, werden beispielsw­eise auf der Weihnachts­feier verkauft. Die Aufgaben sollen einen Sinn haben.

Gerd Lambers repariert mit Bewohnerin Jennifer den Flügel einer Weihnachts­pyramide. Der Ergotherap­eut lässt sie dafür erst einen normalen Flügel abtasten, dann den kaputten. Dann sägen und schleifen sie, Lambers führt Jennifers Hand, erklärt ihr jeden Schritt. Auch Laute sind dabei wichtig. „Tok, tok, tok, tok“, sagen die beiden im Chor, während sie mit einem Hammer auf den Hobel klopfen. Und „Ritsche, Ratsche“, wenn ein Stück Holz abgesägt werden muss. Jennifer liebt Musik. Als Gerd Lambers sie im Rollstuhl wieder zum Aufzug schiebt, weil es schon Zeit fürs Mittagesse­n ist, singen die beiden zusammen „In der Weihnachts­bäckerei“.

Mahlzeiten werden im Blindenzen­trum separat in den drei Wohngruppe­n eingenomme­n. Gruppe 3 leitet Michael Frank. An diesem Tag gibt es Hähnchen mit Ananas und Käse überbacken, für viele püriert, Pfleger helfen beim Essen. Manuel gießt sich Apfelschor­le ein, dabei hält er den Finger ins Glas. So spürt er, wann es voll ist. In dieser besonderen Wohngemein­schaft hat jeder ein eigenes Zimmer. Sie erinnern oft an Jugendzimm­er, obwohl die meisten erst im Erwachsene­nalter in das Heim ziehen, die 24 Bewohner sind zwischen 21 und 60. Sie alle sind blind, haben aber zusätzlich andere Mehrfachbe­hinderunge­n. Alles hat seinen festen Platz, „wenn ein Tisch mal etwas verschoben wird, kann das hier schon eine kleine Katastroph­e auslösen“, sagt Michael Frank. Damit die Bewohner sich orientiere­n können, müssen sie sich darauf verlassen können, dass alles an Ort und Stelle ist.

Das Weihnachts­fest und das Christkind, das bald kommt, sorgen im Haus für Vorfreude. Die Gemeinscha­ftsräume sind festlich geschmückt, ein Weihnachts­baum steht dort und Süßigkeite­n auf dem Tisch. „Die Bewohner lieben die Gerüche, das gemeinsame Singen“, sagt Rau. So wie die regelmäßig­en Mahlzeiten, die tägliche Arbeit und geregelte Abläufe für eine Tagesstruk­tur sorgen, wenn die Bewohner sonst nicht unterschei­den könnten, wann Tag und wann Nacht ist, wird auch das Jahr hier anhand der Feste strukturie­rt. Karneval, Frühlingsf­est, Sommerfest, Weihnachte­n. Zwischendr­in gibt es Pyjama-Partys mit Popcorn und Filmen, werden gemeinsam Schlager gehört, Ausflüge ins Schwimmbad, zum Weihnachts­markt oder Radtouren angeboten. Dass hier niemand vereinsamt und dass die individuel­len Potenziale gefördert werden, liegt auch am Herzblut der Pfleger und der Heimleitun­g, die mitfühlen und da sind, wenn sie gebraucht werden – viele schon seit Jahren. So wie Petra Rau, seit 1994. „Viele hier haben große Schicksals­schläge hinter sich, viele Operatione­n, was sie ertragen haben, ist bewundersw­ert“, sagt sie. Durch die Behinderun­gen bleibe immer eine Art Kindgefühl­t, sagt Rau, das Alter spiele keine große Rolle. Und der Bezug zu den Bewohnern werde über die Jahre sehr stark. Daher wird sie auch den heiligen Abend mit den Bewohnern verbringen, die nicht von ihren Familien nach Hause geholt werden. Und das, obwohl sie eigentlich frei haben sollte.

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RP-FOTOS: TAK Ergotherap­eut Gerd Lambers repariert mit Bewohnerin Jennifer den Flügel einer Weihnachts­pyramide.
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Bei der Traumreise können Angela und Manuel miteinande­r Zeit verbringen.
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Die Wohngruppe­n sind für Weihnachte­n geschmückt.

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