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Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Am liebsten hätte sie ihr entgegengeschleudert, dass sie nicht auf dem neuesten Stand war, dass Psychologen mittlerweile der Ansicht seien, man solle traumatisierte Menschen nicht sofort vom Ort des Geschehens entfernen, sondern alles tun, um sie dort zu lassen, damit sie sich langsam an diesem Ort besser fühlen konnten. Nur so hatten sie eine Chance, das Trauma des Tatortes zu überwinden.
Wera zumindest war davon überzeugt, dass es besser war, sitzen zu bleiben. Sie sah ganz deutlich vor sich, was es für ihr weiteres Leben bedeuten würde, zufällig zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort gewesen zu sein.
Am Ende mussten zwei Polizisten mit Gewalt ihre Hand von der Leiche entfernen und sie hinaustragen. Es war ihnen sichtlich unangenehm, aber sie sagten, es ginge nun mal nicht anders, sie brauchten Platz, um bessere Tatortfotos von Stefs Leiche machen zu können.
21. Januar 2015 Master‘s Lodge New College Cambridge
Denys sah die Hauptaufgabe eines Masters darin, den guten Ruf seines Colleges zu schützen. Am New College hatte er vor über vierzig Jahren als junger Student angefangen, und hier wollte er eines Tages seine Karriere erfolgreich beenden. Es war ein Kreis, der sich dann schließen würde, und die Nahtstellen sollten so ordentlich wie möglich verlaufen.
New College war nicht nur sein College gewesen, schon sein Vater und Großvater hatten hier studiert. Für Denys war es daher mehr als ein Arbeitsplatz – mit dem College verband ihn eine lange Familientradition. Er würde es auf keinen Fall dulden, dass dieses College während seiner Amtszeit mit negativen Berichten in die Medien geriet.
Aus diesem Grund hatte er außergewöhnlich schnell reagiert. Nachdem die Rettungsdienste und die Polizei das College verlassen hatten, rief er Anne Winter an. Es war eine seiner Stärken, dass er immer wusste, wen man in welcher Situation anrufen musste. Schon während seiner Zeit als Politiker hatte er in mühevoller Kleinarbeit das beste Adressbuch von Whitehall angelegt. Georgina war dabei unverzichtbar gewesen, jede private Handynummer hatten sie sich gemeinsam erarbeitet.
Dafür mussten sie nicht enden wollende Konzertabende, Galerieausstellungen und Wohltätigkeitsfeste über sich ergehen lassen. Am schlimmsten war es gewesen, als er für einen Minister gearbeitet hatte, der ein Wagnerfanatiker war und mit dem er grauenhaft lange Stunden im Royal Opera House hatte vergeuden müssen.
Er konnte seitdem keine Note aus dem Ring mehr hören, ohne einen Anflug von Übelkeit zu verspüren. Aber das waren nun mal die Dinge, die man ertragen musste, wenn man etwas bewirken wollte. Seine Kontakte aus dieser Zeit waren ihm bis heute nützlich. Selbst in den Regierungszeiten von Labour-Premiers wie Tony Blair und Gordon Brown hatte er sein Adressbuch vergrößern können. Es war ein weit verbreiteter Irrtum, dass Abgeordnete der Konservativen nicht mit Labourleuten sprachen. Seine besten Helfer hatte er häufig in der gegnerischen Partei angetroffen.
Natürlich verlief nicht immer alles am New College so erfolgreich wie in seiner Zeit als Politiker. Ein Adressbuch in Cambridge aufzubauen konnte eine komplexe Herausforderung sein. Wissenschaftler waren schwierigere Charaktere als Politiker und sehr viel unberechenbarer in ihren Entscheidungen. Aber am Ende funktionierten alle Institutionen nach einer klaren mathematischen Formel – es war ein Geben und Nehmen. Und mittlerweile schuldeten ihm einige einiges. Natürlich gab es allerorten Renegaten wie Hunt, der diese Formel stoisch boykottierte.
Der Mann mischte sich in alles ein, und mit seinem ewigen Genörgel hatte er oft genug jede noch so notwendige Collegeentscheidung blockiert. Überall wo Hunt auftauchte, brach eine Woche später die Revolution aus. Es war eine frustrierende Situation, da man zumindest vorgeben musste, ihm zuzuhören.
Hunt war nun einmal für die Öffentlichkeit das bekannteste Mitglied von New College. Und ausgerechnet in seinem Zimmer war Stef ermordet worden. Denys blieb jetzt erst einmal nichts anderes übrig, als Hunt vor der Presse zu schützen. Anne Winter würde ihm dabei helfen können. Sie war die Dekanin der Historischen Fakultät und damit – theoretisch – auch Hunts Vorgesetzte.
Der Master hatte Anne in mehreren Kommissionssitzungen als vernünftige Frau erlebt und somit als das völlige Gegenteil von Hunt. Sie war Mitte vierzig und für eine Wissenschaftlerin ungewöhnlich attraktiv. Er wusste, sie würde ihn nicht enttäuschen. Eine halbe Stunde, nachdem er sie angerufen hatte, stand sie in seinem Arbeitszimmer. Sie schien etwas außer Atem zu sein, und ihre langen braunen Haare waren nicht so akkurat frisiert wie sonst.
„Es war nicht einfach, ins College zu kommen. Sie haben am Eingang drei Kamerateams aufgebaut.“
„Das tut mir sehr leid, Anne. Wir lassen außer Studenten niemanden mehr rein.“
Er reichte ihr ein Glas Wasser, das sie dankbar annahm.
„Wie kann ich jetzt helfen?“
„Wir müssen eine Stellungnahme für die Presse erarbeiten. Diese Journalisten werden alles über Professor Hunt ausgraben, was es auszugraben gibt. Es wäre daher besser, ich wüsste, ob etwas gegen ihn vorliegt. Hat es an der Fakultät in letzter Zeit schon einmal Beschwerden über ihn gegeben?“
„Nein.“
Denys war überrascht. „Sind Sie sicher, Anne?“
Sie dachte kurz nach. „Nur wegen der Einkäufe. Manchmal nimmt er seine Studenten einfach mit.“
„Er kauft mit ihnen ein?“
„Er scheint überall mit Studenten arbeiten zu können. Während seines wöchentlichen Großeinkaufs bei Aldi und vor allem im Kaffeehaus. Sein letztes Buch widmete er der Kellnerin im Starbucks. Die meisten Studenten fühlen sich geehrt, von ihm zum Kaffee eingeladen zu werden. Nur in diesem Beschwerdefall ging es um einen saudi-arabischen Studenten, der es als Verletzung seines Ehrgefühls empfand, dass Professor Hunt ihn auf dem Weg zur Apotheke über seine Dissertation beraten hat.“
„Er hat dort Kondome eingekauft?“, fragte Denys besorgt.
(Fortsetzung folgt)