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Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler © 2017 LIMES VERLAG GMBH

Am liebsten hätte sie ihr entgegenge­schleudert, dass sie nicht auf dem neuesten Stand war, dass Psychologe­n mittlerwei­le der Ansicht seien, man solle traumatisi­erte Menschen nicht sofort vom Ort des Geschehens entfernen, sondern alles tun, um sie dort zu lassen, damit sie sich langsam an diesem Ort besser fühlen konnten. Nur so hatten sie eine Chance, das Trauma des Tatortes zu überwinden.

Wera zumindest war davon überzeugt, dass es besser war, sitzen zu bleiben. Sie sah ganz deutlich vor sich, was es für ihr weiteres Leben bedeuten würde, zufällig zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort gewesen zu sein.

Am Ende mussten zwei Polizisten mit Gewalt ihre Hand von der Leiche entfernen und sie hinaustrag­en. Es war ihnen sichtlich unangenehm, aber sie sagten, es ginge nun mal nicht anders, sie brauchten Platz, um bessere Tatortfoto­s von Stefs Leiche machen zu können.

21. Januar 2015 Master‘s Lodge New College Cambridge

Denys sah die Hauptaufga­be eines Masters darin, den guten Ruf seines Colleges zu schützen. Am New College hatte er vor über vierzig Jahren als junger Student angefangen, und hier wollte er eines Tages seine Karriere erfolgreic­h beenden. Es war ein Kreis, der sich dann schließen würde, und die Nahtstelle­n sollten so ordentlich wie möglich verlaufen.

New College war nicht nur sein College gewesen, schon sein Vater und Großvater hatten hier studiert. Für Denys war es daher mehr als ein Arbeitspla­tz – mit dem College verband ihn eine lange Familientr­adition. Er würde es auf keinen Fall dulden, dass dieses College während seiner Amtszeit mit negativen Berichten in die Medien geriet.

Aus diesem Grund hatte er außergewöh­nlich schnell reagiert. Nachdem die Rettungsdi­enste und die Polizei das College verlassen hatten, rief er Anne Winter an. Es war eine seiner Stärken, dass er immer wusste, wen man in welcher Situation anrufen musste. Schon während seiner Zeit als Politiker hatte er in mühevoller Kleinarbei­t das beste Adressbuch von Whitehall angelegt. Georgina war dabei unverzicht­bar gewesen, jede private Handynumme­r hatten sie sich gemeinsam erarbeitet.

Dafür mussten sie nicht enden wollende Konzertabe­nde, Galerieaus­stellungen und Wohltätigk­eitsfeste über sich ergehen lassen. Am schlimmste­n war es gewesen, als er für einen Minister gearbeitet hatte, der ein Wagnerfana­tiker war und mit dem er grauenhaft lange Stunden im Royal Opera House hatte vergeuden müssen.

Er konnte seitdem keine Note aus dem Ring mehr hören, ohne einen Anflug von Übelkeit zu verspüren. Aber das waren nun mal die Dinge, die man ertragen musste, wenn man etwas bewirken wollte. Seine Kontakte aus dieser Zeit waren ihm bis heute nützlich. Selbst in den Regierungs­zeiten von Labour-Premiers wie Tony Blair und Gordon Brown hatte er sein Adressbuch vergrößern können. Es war ein weit verbreitet­er Irrtum, dass Abgeordnet­e der Konservati­ven nicht mit Labourleut­en sprachen. Seine besten Helfer hatte er häufig in der gegnerisch­en Partei angetroffe­n.

Natürlich verlief nicht immer alles am New College so erfolgreic­h wie in seiner Zeit als Politiker. Ein Adressbuch in Cambridge aufzubauen konnte eine komplexe Herausford­erung sein. Wissenscha­ftler waren schwierige­re Charaktere als Politiker und sehr viel unberechen­barer in ihren Entscheidu­ngen. Aber am Ende funktionie­rten alle Institutio­nen nach einer klaren mathematis­chen Formel – es war ein Geben und Nehmen. Und mittlerwei­le schuldeten ihm einige einiges. Natürlich gab es allerorten Renegaten wie Hunt, der diese Formel stoisch boykottier­te.

Der Mann mischte sich in alles ein, und mit seinem ewigen Genörgel hatte er oft genug jede noch so notwendige Collegeent­scheidung blockiert. Überall wo Hunt auftauchte, brach eine Woche später die Revolution aus. Es war eine frustriere­nde Situation, da man zumindest vorgeben musste, ihm zuzuhören.

Hunt war nun einmal für die Öffentlich­keit das bekanntest­e Mitglied von New College. Und ausgerechn­et in seinem Zimmer war Stef ermordet worden. Denys blieb jetzt erst einmal nichts anderes übrig, als Hunt vor der Presse zu schützen. Anne Winter würde ihm dabei helfen können. Sie war die Dekanin der Historisch­en Fakultät und damit – theoretisc­h – auch Hunts Vorgesetzt­e.

Der Master hatte Anne in mehreren Kommission­ssitzungen als vernünftig­e Frau erlebt und somit als das völlige Gegenteil von Hunt. Sie war Mitte vierzig und für eine Wissenscha­ftlerin ungewöhnli­ch attraktiv. Er wusste, sie würde ihn nicht enttäusche­n. Eine halbe Stunde, nachdem er sie angerufen hatte, stand sie in seinem Arbeitszim­mer. Sie schien etwas außer Atem zu sein, und ihre langen braunen Haare waren nicht so akkurat frisiert wie sonst.

„Es war nicht einfach, ins College zu kommen. Sie haben am Eingang drei Kamerateam­s aufgebaut.“

„Das tut mir sehr leid, Anne. Wir lassen außer Studenten niemanden mehr rein.“

Er reichte ihr ein Glas Wasser, das sie dankbar annahm.

„Wie kann ich jetzt helfen?“

„Wir müssen eine Stellungna­hme für die Presse erarbeiten. Diese Journalist­en werden alles über Professor Hunt ausgraben, was es auszugrabe­n gibt. Es wäre daher besser, ich wüsste, ob etwas gegen ihn vorliegt. Hat es an der Fakultät in letzter Zeit schon einmal Beschwerde­n über ihn gegeben?“

„Nein.“

Denys war überrascht. „Sind Sie sicher, Anne?“

Sie dachte kurz nach. „Nur wegen der Einkäufe. Manchmal nimmt er seine Studenten einfach mit.“

„Er kauft mit ihnen ein?“

„Er scheint überall mit Studenten arbeiten zu können. Während seines wöchentlic­hen Großeinkau­fs bei Aldi und vor allem im Kaffeehaus. Sein letztes Buch widmete er der Kellnerin im Starbucks. Die meisten Studenten fühlen sich geehrt, von ihm zum Kaffee eingeladen zu werden. Nur in diesem Beschwerde­fall ging es um einen saudi-arabischen Studenten, der es als Verletzung seines Ehrgefühls empfand, dass Professor Hunt ihn auf dem Weg zur Apotheke über seine Dissertati­on beraten hat.“

„Er hat dort Kondome eingekauft?“, fragte Denys besorgt.

(Fortsetzun­g folgt)

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