Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Wieso Jenny? War sie gekommen, um sich an seinem Elend zu weiden, oder vertrat sie die Univerwaltung? Um zwei Uhr früh? Unwahrscheinlich. Er kannte keinen, der dort nach vier Uhr nachmittags noch arbeitete.
Sie stand in seinem Arbeitszimmer, dick eingepackt in Wollschal und Wintermantel. Wie Mary Poppins schien der Wind sie hereingefegt zu haben, und er fragte sich, wie sie an den Journalisten vorbeigekommen war und seit wann sie einen Schlüssel hatte.
Trotz des Wintermantels sah sie sehr viel schmaler aus als bei diesem Collegedinner im letzten Oktober. Sie schaute ihn auch nicht mehr wütend an, eher freundlich, wie eine Hundemutter, die ihr verlorenes Junges betrachtet.
„Was ist passiert, Hunt?“
Er war verschlafen und verwirrt: „Seit wann bist du bei der Polizei, Jenny?“
„Für diesen Fall interessiert sich nicht nur die Polizei.“
Er verstand überhaupt nichts. „Wer noch?“
„Fünf.“Jennys Stimme klang immer noch ungewohnt freundlich. „MI5?“, fragte Hunt ungläubig. Langsam, viel zu langsam für einen Mann seiner Intelligenz, verstand er. Stef war nicht irgendein Informatiker gewesen. Darüber hatten sie alle immer gemunkelt – dass Stef an Regierungsprojekten arbeitete. Es bedeutete, dass der Mord eine Angelegenheit für den Geheimdienst war. Aber Jenny als Mitarbeiterin des MI5? Die überzeugteste Gegnerin des Establishments arbeitete für das geheimste Innere des Establishments?
Ausgerechnet Jenny? Er hatte unendliche Diskussionen mit ihr geführt, sie war politisch immer die Radikalste von allen gewesen, auf jeder Demonstration dabei. Wann hatte sie die Seiten gewechselt? Oder war sie schon immer auf einer Seite gewesen und hatte nur eine perfekte Vorstellung geliefert?
Hunt war verärgert und beeindruckt zugleich. Welch ein kluger Schachzug, sie zu schicken. Niemand kannte ihn besser. Sie würde ihn nicht davonkommen lassen. Wahrscheinlich existierte bereits eine Strategie, um alle außer ihn aus der Sache rauszuhalten. Er sah sie an in ihrer Mary-Poppins-Verkleidung. Aus alter Gewohnheit heraus versuchte er es auf die süffisante Art.
„Du arbeitest für den MI5? Wer hätte gedacht, dass du dich in solche Niederungen begibst.“
Sie lächelte ihn an.
„Du wirst meine Hilfe brauchen, Hunt.“
„Haben sie dich als Putzfrau geschickt, Jenny? Um nach dem Mord an Stef aufzuräumen? Das ist komisch. Die linke Jenny macht die Säuberungsarbeiten für den MI5. Als wir zusammenlebten, hast du kein einziges Mal geputzt.“
„Und du hast es nie so billig gegeben.“
Ihre Überlegenheitsnummer ging ihm noch mehr auf die Nerven als das freundliche Hundelächeln. Seit wann war sie so ruhig und gelassen?
„Du kannst es mir wirklich glauben, Jenny, ich empfinde keine besondere Freude daran, wenn jemand in meinem Collegezimmer niedergemetzelt wird.“
„Was genau ist passiert?“
„Woher soll ich das wissen? Ich war ja nicht da. Ich hatte um sechzehn Uhr einen Termin mit der kleinen Wera in meinem Zimmer. Du weißt ja, wie die Deutschen sind, immer pünktlich. Sie muss schon um fünfzehn Uhr fünfundfünfzig da gewesen sein, als ich mich noch von einer Collegesitzung erholen musste.“
„Wo hat die Erholung stattgefunden, im Pub?“
Er ignorierte die Bemerkung. „Warum Stef in meinem Zimmer war, ist mir schleierhaft. Wir haben das letzte Mal 1970 mehr als vier Worte miteinander gewechselt. Er konnte mich nicht ausstehen, warum auch immer. Vielleicht lag es daran, dass ich aus Versehen ein paar Mal mit seiner Frau geschlafen habe, aber wer hatte das nicht?“
Jenny schien kurz zusammengezuckt zu sein. Es freute ihn, dass er sie doch noch überraschen konnte. Sie zog jetzt endlich ihren Mantel aus und setzte sich auf einen Stuhl.
„Er war in deinem Zimmer, weil du ihn eingeladen hast.“
„Ich habe was?“
Sie zog eine Karte aus ihrer Manteltasche und las vor: ,Muss dich sprechen. Mittwoch drei Uhr bei mir im College.’ Hunt spürte, wie sein ganzer Körper sich verkrampfte. „Das ist nicht von mir.“
„Vielleicht. Es ist auf jeden Fall sehr gut gemacht.“
Seine Muskeln schmerzten jetzt. „Wo habt ihr es gefunden?“
„Zu Hause in Stefs Küchenabfalleimer.“
„Das ist alles vollkommen verrückt!“
„Ist es das?“, fragte Jenny. „Natürlich ist es das! Wer könnte ein Interesse daran haben, Stef zu ermorden?“
Jenny schien zu zögern, bevor sie antwortete.
„Abgesehen von dir gibt es noch ein paar Alternativen. Vielleicht weißt du es nicht, aber Cambridge ist führend in der Entwicklung neuer Computertechnologien. Das wird dich nicht interessieren, weil es nichts mit deinem Fach zu tun hat. Aber wenn du mal dein geschütztes Revier verlassen und einen Ausflug in den Cambridge Science Park machen würdest, würde dir auffallen, dass hier mittlerweile ein neues Silicon Valley entsteht.“
„Mit dem Thema hat Stef uns doch bei diesem Dinner letzten Herbst alle gelangweilt. Er hat Drohnen oder so etwas gebaut.“
„Da musst du dich verhört haben.“
„Also was dann?“
„Uns interessieren neue Arten von Waffen.“
Hunt lachte. „Ich hätte nie gedacht, dass jemand wie du so gelassen über die Waffenindustrie reden kann.“
Jenny ignorierte die Ironie in seiner Stimme.
„Sein Sohn, David, studiert bei dir?“
„Ja. Du kennst ihn doch auch.“„Wieso hast du David als Doktorand angenommen, Hunt? Laut seiner Krankenakte leidet er seit dem Tod seiner Mutter unter Depressionen.“
„Ihr habt Zugang zu seiner Krankenakte? Ist gar nichts vor euch sicher?“
„Komm mir jetzt nicht mit dieser klebrigen Poesiealbum-Moral, Hunt.“Jennys Stimme klang ungehalten. „Wir leben in Zeiten des Terrors, und das fällt jemandem wie dir nur auf, wenn dein Flug in die Algarve annulliert wird. Dann regst du dich maßlos auf. Für dich findet das doch alles nur virtuell statt.“
(Fortsetzung folgt)