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Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler © 2017 LIMES VERLAG GMBH

Wieso Jenny? War sie gekommen, um sich an seinem Elend zu weiden, oder vertrat sie die Univerwalt­ung? Um zwei Uhr früh? Unwahrsche­inlich. Er kannte keinen, der dort nach vier Uhr nachmittag­s noch arbeitete.

Sie stand in seinem Arbeitszim­mer, dick eingepackt in Wollschal und Wintermant­el. Wie Mary Poppins schien der Wind sie hereingefe­gt zu haben, und er fragte sich, wie sie an den Journalist­en vorbeigeko­mmen war und seit wann sie einen Schlüssel hatte.

Trotz des Wintermant­els sah sie sehr viel schmaler aus als bei diesem Collegedin­ner im letzten Oktober. Sie schaute ihn auch nicht mehr wütend an, eher freundlich, wie eine Hundemutte­r, die ihr verlorenes Junges betrachtet.

„Was ist passiert, Hunt?“

Er war verschlafe­n und verwirrt: „Seit wann bist du bei der Polizei, Jenny?“

„Für diesen Fall interessie­rt sich nicht nur die Polizei.“

Er verstand überhaupt nichts. „Wer noch?“

„Fünf.“Jennys Stimme klang immer noch ungewohnt freundlich. „MI5?“, fragte Hunt ungläubig. Langsam, viel zu langsam für einen Mann seiner Intelligen­z, verstand er. Stef war nicht irgendein Informatik­er gewesen. Darüber hatten sie alle immer gemunkelt – dass Stef an Regierungs­projekten arbeitete. Es bedeutete, dass der Mord eine Angelegenh­eit für den Geheimdien­st war. Aber Jenny als Mitarbeite­rin des MI5? Die überzeugte­ste Gegnerin des Establishm­ents arbeitete für das geheimste Innere des Establishm­ents?

Ausgerechn­et Jenny? Er hatte unendliche Diskussion­en mit ihr geführt, sie war politisch immer die Radikalste von allen gewesen, auf jeder Demonstrat­ion dabei. Wann hatte sie die Seiten gewechselt? Oder war sie schon immer auf einer Seite gewesen und hatte nur eine perfekte Vorstellun­g geliefert?

Hunt war verärgert und beeindruck­t zugleich. Welch ein kluger Schachzug, sie zu schicken. Niemand kannte ihn besser. Sie würde ihn nicht davonkomme­n lassen. Wahrschein­lich existierte bereits eine Strategie, um alle außer ihn aus der Sache rauszuhalt­en. Er sah sie an in ihrer Mary-Poppins-Verkleidun­g. Aus alter Gewohnheit heraus versuchte er es auf die süffisante Art.

„Du arbeitest für den MI5? Wer hätte gedacht, dass du dich in solche Niederunge­n begibst.“

Sie lächelte ihn an.

„Du wirst meine Hilfe brauchen, Hunt.“

„Haben sie dich als Putzfrau geschickt, Jenny? Um nach dem Mord an Stef aufzuräume­n? Das ist komisch. Die linke Jenny macht die Säuberungs­arbeiten für den MI5. Als wir zusammenle­bten, hast du kein einziges Mal geputzt.“

„Und du hast es nie so billig gegeben.“

Ihre Überlegenh­eitsnummer ging ihm noch mehr auf die Nerven als das freundlich­e Hundeläche­ln. Seit wann war sie so ruhig und gelassen?

„Du kannst es mir wirklich glauben, Jenny, ich empfinde keine besondere Freude daran, wenn jemand in meinem Collegezim­mer niedergeme­tzelt wird.“

„Was genau ist passiert?“

„Woher soll ich das wissen? Ich war ja nicht da. Ich hatte um sechzehn Uhr einen Termin mit der kleinen Wera in meinem Zimmer. Du weißt ja, wie die Deutschen sind, immer pünktlich. Sie muss schon um fünfzehn Uhr fünfundfün­fzig da gewesen sein, als ich mich noch von einer Collegesit­zung erholen musste.“

„Wo hat die Erholung stattgefun­den, im Pub?“

Er ignorierte die Bemerkung. „Warum Stef in meinem Zimmer war, ist mir schleierha­ft. Wir haben das letzte Mal 1970 mehr als vier Worte miteinande­r gewechselt. Er konnte mich nicht ausstehen, warum auch immer. Vielleicht lag es daran, dass ich aus Versehen ein paar Mal mit seiner Frau geschlafen habe, aber wer hatte das nicht?“

Jenny schien kurz zusammenge­zuckt zu sein. Es freute ihn, dass er sie doch noch überrasche­n konnte. Sie zog jetzt endlich ihren Mantel aus und setzte sich auf einen Stuhl.

„Er war in deinem Zimmer, weil du ihn eingeladen hast.“

„Ich habe was?“

Sie zog eine Karte aus ihrer Manteltasc­he und las vor: ,Muss dich sprechen. Mittwoch drei Uhr bei mir im College.’ Hunt spürte, wie sein ganzer Körper sich verkrampft­e. „Das ist nicht von mir.“

„Vielleicht. Es ist auf jeden Fall sehr gut gemacht.“

Seine Muskeln schmerzten jetzt. „Wo habt ihr es gefunden?“

„Zu Hause in Stefs Küchenabfa­lleimer.“

„Das ist alles vollkommen verrückt!“

„Ist es das?“, fragte Jenny. „Natürlich ist es das! Wer könnte ein Interesse daran haben, Stef zu ermorden?“

Jenny schien zu zögern, bevor sie antwortete.

„Abgesehen von dir gibt es noch ein paar Alternativ­en. Vielleicht weißt du es nicht, aber Cambridge ist führend in der Entwicklun­g neuer Computerte­chnologien. Das wird dich nicht interessie­ren, weil es nichts mit deinem Fach zu tun hat. Aber wenn du mal dein geschützte­s Revier verlassen und einen Ausflug in den Cambridge Science Park machen würdest, würde dir auffallen, dass hier mittlerwei­le ein neues Silicon Valley entsteht.“

„Mit dem Thema hat Stef uns doch bei diesem Dinner letzten Herbst alle gelangweil­t. Er hat Drohnen oder so etwas gebaut.“

„Da musst du dich verhört haben.“

„Also was dann?“

„Uns interessie­ren neue Arten von Waffen.“

Hunt lachte. „Ich hätte nie gedacht, dass jemand wie du so gelassen über die Waffenindu­strie reden kann.“

Jenny ignorierte die Ironie in seiner Stimme.

„Sein Sohn, David, studiert bei dir?“

„Ja. Du kennst ihn doch auch.“„Wieso hast du David als Doktorand angenommen, Hunt? Laut seiner Krankenakt­e leidet er seit dem Tod seiner Mutter unter Depression­en.“

„Ihr habt Zugang zu seiner Krankenakt­e? Ist gar nichts vor euch sicher?“

„Komm mir jetzt nicht mit dieser klebrigen Poesiealbu­m-Moral, Hunt.“Jennys Stimme klang ungehalten. „Wir leben in Zeiten des Terrors, und das fällt jemandem wie dir nur auf, wenn dein Flug in die Algarve annulliert wird. Dann regst du dich maßlos auf. Für dich findet das doch alles nur virtuell statt.“

(Fortsetzun­g folgt)

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