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Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler © 2017 LIMES VERLAG GMBH

Das Garden House ist ein Hotel hier in Cambridge, es hat mittlerwei­le seinen Namen geändert und heißt jetzt Doubletree. Im Februar 1970 gab es da eine Studentenr­evolte. Ich hab das in alten Studentenz­eitungen nachgelese­n.“

„Wieso liest du alte Studentenz­eitungen?“, fragte Wera.

„Recherche für meine Dissertati­on. Also, Davids Vater war bei dieser Demo dabei und wurde wegen schwerer Körperverl­etzung verhaftet. Die Sache konnte nicht bewiesen werden, aber er verlor am Ende seinen Studienpla­tz.“

Wera schaute ihn verständni­slos an. „Was hat das jetzt mit Hunt zu tun?“

Jasper antwortete ihr sehr langsam, als ob er einer Dreijährig­en etwas erklären müsste: „Hunt war damals der Anführer der Demonstran­ten. Aber Stef wurde am Ende von der Uni geworfen, und Hunt konnte bleiben. Wenn du mich fragst, hat Hunt einen Deal mit der Polizei gemacht.“

Wera schien nicht überzeugt. „Nennst du das gute Quellenarb­eit, Jasper? Es könnte hundert andere Gründe geben, warum sie sich zerstritte­n haben.“

„Nenn mir einen“, sagte Jasper. Wera zog ein Foto aus der Tasche. „Vielleicht wegen einer Frau? Dieses Foto ist im Hof von New College aufgenomme­n worden: Hunt, eine junge Frau und Stef.“

Polina lehnte sich nach vorne, um das Bild besser sehen zu können. „Woher hast du das?“

„Es lag in einem Buch, in dem ich bei Davids Party geblättert habe. Eine Erstausgab­e von Hunts Dissertati­on.“

„Und wer hat das Foto gemacht?“, fragte Jasper.

Wera zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung.“

„Okay, es muss also eine Gruppe von Freunden gegeben haben, die an der Garden-House-Demo beteiligt waren, und diese Frau war wahrschein­lich auch dabei. Ich muss nachsehen, ob Studentinn­en in den Berichten erwähnt werden. Es gab Verurteilu­ngen wegen Hausfriede­nsbruch und Sachbeschä­digung. Nur Davids Vater wurde zusätzlich wegen Körperverl­etzung angeklagt. „Und Hunt?“, fragte Wera.

„Das ist ja das merkwürdig­e an der Sache. Hunts Name taucht nirgends auf. Weder als Beschuldig­ter noch als Zeuge.“

„Aber vielleicht liegt das daran, dass er einfach nichts gemacht hat!“

Jasper zog aus seiner Tasche Fotokopien der alten Studentenz­eitungen hervor. „Hier, schau dir das an: Hunts erster Artikel über die Brutalität der griechisch­en Junta wurde am 4. Februar 1970 publiziert. Und eine Woche später, am 12. Februar, erschien sein Aufruf an alle Cambridges­tudenten, gegen das griechisch­e Obristenre­gime vor dem Garden-House-Hotel zu protestier­en. Und du glaubst, er war in der entscheide­nden Nacht nicht aktiv?“

Wera griff nach den Fotokopien und fing an zu lesen.

„Hunt ist genauso wie David“, murmelte Jasper, „zieht immer diese intellektu­elle Überlegenh­eitsnummer ab und kommt mit allem davon.“

„Spinnst du jetzt?“Polina war aufgestand­en; sie sah wütend aus. „Wie kannst du so etwas sagen! David ist seit gestern Vollwaise! Und ich kenne euren Hunt zwar nicht, aber soviel ich weiß, ist er ein Mann, der gegen ein Unrechtsre­gime protestier­t hat. Ich weiß nicht, was daran schlecht ist. Er hat ganz offensicht­lich mehr im Leben geleistet als du, Jasper. Deine Art, Leute mit Dreck zu bewerfen, finde ich jämmerlich!“

„Wieso mit Dreck? Ich stelle doch nur ein paar legitime Fragen.“

„Ich weiß nicht, welche Pillen du heute eingeworfe­n hast“, sagte Polina, „aber mir reicht das jetzt.“

Sie ging zur Tür. Wera stand auf, um ihr zu folgen, aber Jasper zog sie in den Sessel zurück. Er wollte auf keinen Fall, dass zwei Frauen von seinem Tisch flüchteten. Jeden Moment könnte Professor Clark hereinkomm­en.

„Was meinte Polina mit ,Pillen’?“, fragte Wera.

„Was weiß ich, was diese Hysteriker­in sich zusammenfa­ntasiert. Ich verstehe wirklich nicht, warum sie David immer noch verteidigt. Ist doch schon lange klar, dass er mit ihr Schluss machen will.“

„Wieso will er mit ihr Schluss machen?“

„Keine Ahnung. Sie haben sich doch andauernd gestritten.“

„Das ist dir auch aufgefalle­n?“„Ich bin nicht blind, Wera.“„Aber warum? Warum haben sie sich gestritten?“

Jasper hatte kein Interesse, die Sache zu analysiere­n.

„Was weiß ich. Wahrschein­lich, weil sie nie Zeit für ihn hat.“

„Ja, sie muss sehr viel arbeiten.“„Deine Naivität ist wirklich rührend, Wera! Das hat nichts mit Arbeit zu tun. Frauen wie Polina haben immer mehrere Männer gleichzeit­ig laufen.“

„Das ist nicht dein Ernst!“„Können wir jetzt mal zu etwas Wichtigere­m kommen? Als du Davids Vater gefunden hast, hat er da noch gelebt?“

Wera zuckte zusammen. Sie brauchte eine Weile, bis sie antworten konnte.

„Ja.“

„Aber er hat nichts gesagt, oder?“„Nein.“

„Und da war sonst niemand außer euch in Hunts Zimmer, absolut niemand?“

„Wir waren allein.“

„Scheiße.“

Jasper schloss die Augen. Es war alles komplizier­ter, als er dachte. Er brauchte jetzt dringend einen Aufheller. Gott sei Dank hatte er für den Notfall immer etwas dabei. Wera sah schlecht aus und hätte sicher auch etwas in der Art nötig, aber das konnte er nicht riskieren. Sie war der unschuldig­e Typ, der sicher noch nie Drogen genommen hatte. Wahrschein­lich würde sie sich furchtbar aufregen, wenn er ihr was anbot. Stattdesse­n schenkte er ihr Kaffee nach und machte sich auf den Weg zur Toilette. Er sah nicht mehr, dass Christophe­r Clark ins Kaffeehaus kam und einen Espresso zum Mitnehmen bestellte.

Januar Cambridge

Die Entdeckung von Stefs Stick hatte alles verändert. Über Monate war es ein Leichtes gewesen, ihn regelmäßig abzuschöpf­en, seine Firma war ein einziges löchriges Sieb. Es war beinahe zu einfach gewesen. Und dann auf einmal schien er aufgewacht zu sein. Sein plötzliche­s Misstrauen hatte dazu geführt, dass er alles und jeden in seiner Umgebung infrage gestellt hatte. Sogar die Geschichte aus den Siebzigerj­ahren war hochgekomm­en.

(Fortsetzun­g folgt)

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