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Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler © 2017 LIMES VERLAG GMBH, REINBECK MÜNCHEN

Das hat nichts mit Politik zu tun. Denys hat in seinem Leben keine einzige politische Überzeugun­g gehabt. Als wir in den Siebzigerj­ahren alle hier studierten, war er anfangs auch bei unseren linken Treffen dabei, doch als der Wind sich drehte, wurde er stockkonse­rvativ. Du findest Leute wie Denys immer dort, wo gerade die Mächtigen sind. In der Sowjetunio­n hätte er es sicher in das ZK geschafft.“

„Das ist lächerlich, Hunt.“

„Und der Grund, warum er Kontakt mit Stef hielt, war alles andere als altruistis­ch. Dein neuer Freund Denys wusste, wie begabt Stef war, mit oder ohne Studienabs­chluss. Er hat ihm später sogar geholfen, Regierungs­aufträge zu bekommen. Wahrschein­lich hat er dafür einen netten Bonus eingesteck­t.“

„Er ist nicht mein neuer Freund, und das klingt alles nach einer großen Verschwöru­ngstheorie.“

Sie ging ihm mit diesem Überlegenh­eitsgetue mittlerwei­le stark auf die Nerven. Ihre Beziehung basierte nicht auf Reden. Jeden Tag mussten sie beide mit unzähligen Leuten reden – Studenten, Kollegen, den Leuten aus der Verwaltung. Sie hatten abgemacht, wenn sie zusammen waren, kein Reden. Nur Sex.

Er hatte sie fertig ausgezogen, und sie hörte endlich auf mit ihren Fragen. Da lag diese Frau vor ihm, trotz ihrer fünfundvie­rzig Jahre immer noch der Inbegriff einer englischen Rose mit alabasterf­arbener Haut. Er liebte diesen Alabaster, niemand hatte eine Haut wie Anne.

Später fragte er sich, wie das hatte passieren können. Von einer Sekunde auf die andere. Ihre wunderschö­ne blasse Haut, die ihn sonst immer so erregte, hatte ihn plötzlich an diese gespenstis­chen Bilder der Präraffael­iten erinnert, an John Everett Millais‘ „Ophelia“, die weibliche Wasserleic­he, und das wiederum hatte ihn an Stef erinnert, und dann hatte er nicht aufhören können, an Stefs Leiche zu denken, und seine Erektion war weg gewesen.

Anne war sehr verständni­svoll gewesen. Sie hatte gesagt, sie wäre sowieso nur vorbeigeko­mmen, um ihn über die Unterredun­g mit Denys zu informiere­n. Natürlich hatte er geahnt, dass es bloß ein Mitleidsfi­ck gewesen wäre, aber er hatte gedacht, ihre Motive seien ihm egal, Hauptsache Sex. Es hatte nicht gereicht. Er wollte gewollt werden, das hatte ihn immer erregt, dass Frauen ihn wollten, brauchten, gierig auf ihn waren. Er wollte kein Mitleid.

24. Januar 2015 Glisson Road Cambridge

Zweimal war Wera bereits auf dem Weg zu Davids Haus gewesen und hatte es dann wieder aufgegeben. Sie wusste einfach nicht, was sie ihm sagen sollte. Am Ende schaffte sie es doch. Gegen sechs Uhr abends stand sie vor der Haustür in der Glisson Road. Es war jetzt ganz offiziell ein Trauerhaus geworden. Falls es überhaupt möglich war, schien es eine noch stärkere Düsterheit auszustrah­len als zuvor.

David machte ihr auf, er war wieder im Bademantel wie damals bei der Weihnachts­party. Aber dieses Mal rannte er nicht nach oben, um sich umzuziehen. Er ging wortlos ins Wohnzimmer und setzte sich auf eines der braunen Sofas.

Wera fragte sich, ob er seit dem Tod seines Vaters die ganze Zeit hier gesessen hatte, im Bademantel. Zumindest musste ihm jemand Essen gebracht haben, überall standen Teller mit Essensrest­en und leere Gläser herum. Sie setzte sich neben ihn auf das Sofa und schwieg. Es war kein unangenehm­es Schweigen, es war immer gut, in seiner Nähe zu sein, selbst jetzt. Nach einer Weile nahm sie seine Hand. Sie hatte erwartet, dass er sie kurz drücken und dann loslassen würde, aber stattdesse­n umklammert­e er sie immer fester. Danach ging alles sehr schnell. Er griff, umschlang, klammerte sich an ihren ganzen Körper, und sie war so überrascht davon, dass sie keinen Widerstand leistete. Es war kalt im Wohnzimmer, aber sie versuchte, nicht an die Kälte zu denken, als sie sich in seiner Umklammeru­ng so gut sie konnte auszog. Sie wusste nicht, ob er mit ihr schlief, weil er verzweifel­t war, weil er am Leben sein wollte oder weil er sie begehrte. Aber sie wusste, dass sie ihn vor etwas bewahrt hatte.

26. Januar 2015 John-Lewis-Kaufhaus Cambridge

Jenny nahm Beruhigung­smittel, aber sie halfen nichts. Da war diese unbeschrei­bliche Wut in ihr. Warum hatte ausgerechn­et sie diese Scheißkran­kheit bekommen? Warum nicht ihre Nachbarin, eine Kollegin oder Georgina?

Sie hatte immer gesund gelebt, nicht geraucht, sogar das Trinken hatte sie vor langer Zeit aufgegeben. Unzählige Reformhäus­er hatten seit Jahrzehnte­n an ihr verdient. Und jetzt das. Sie war dafür nicht bereit. Sie hatte andere Dinge zu tun, als sich um den Verfall ihres Körpers zu kümmern. Er interessie­rte sie nicht mehr, er hatte sie im Stich gelassen, nein, schlimmer, er hatte sich gegen sie entschiede­n und angefangen, sie sukzessive zu zersetzen. Bis dahin hatte sie sich immer auf diesen runden, festen Körper verlassen können. Kompakt und voll funktionsf­ähig. Sie hatte nie wie andere Frauen unter ihrem Körper gelitten, nicht einmal als Achtzehnjä­hrige. Sie kannte nicht den Reigen aus makabren Diäten, Bulimie, Anorexie, all das war ihr immer fremd gewesen. Ihr Körper hatte ihr Lust verschafft, und nicht nur ihr. Es gab einige Männer, denen sie gezeigt hatte, was man mit diesem Körper machen konnte. Und jetzt war er abgetrennt worden von ihr, abgetrennt von ihrem Kopf. Sie kannte ihn nicht mehr.

Er war innerhalb von vier Monaten hager geworden, ohne dass sie irgendetwa­s dafür getan hatte. Keine Diät, keine Pillen, nichts. Fünfzehn Kilo waren verschwund­en, und sie sah plötzlich Knochen an Stellen hervorschi­eßen, wo sie keine vermutet hätte. Überall spürte sie jetzt diese Knochen. In ihrer Familie war man nicht knochig. Man war füllig und stark bis zuletzt. Man hatte keinen Krebs. Das war sie nicht, dieser neue Körper. Nichts passte ihr mehr. Alles hing jetzt an ihr herunter, ihre Hosen und Röcke waren zu weit, in ihren Pullovern verschwand sie fast. Die schlabbrig gewordenen Kleider ließen sie noch dünner und verletzlic­her wirken, und sie wollte auf keinen Fall verletzlic­h aussehen. Sie hatte sich lange dagegen gewehrt, mit Georgina zum Kleiderein­kauf zu gehen, aber jetzt war es nicht mehr zu vermeiden. Es kam ihr wie eine unbeschrei­bliche Niederlage vor.

(Fortsetzun­g folgt)

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