Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Lieber Entlastungen für Arme und Ältere als für Reiche“
Niedersachsens Ministerpräsident über den schleppenden Stromnetzausbau, die Sozialstaatspläne seiner Partei und Ex-Kanzler Gerhard Schröder.
Herr Weil, bei der Energiewende ist sich ja jedes Bundesland selbst das nächste. Wie nutzen Sie Ihre Position als Stromtransitland?
WEIL Niedersachsen nimmt für sich in Anspruch, nicht nur an sich selbst zu denken. Deutschland hat sich entschieden, nach und nach in erneuerbare Energien einzusteigen, dafür müssen wir den sehr wirtschaftlichen Windstrom nutzen, und dafür brauchen wir große Stromtrassen. Wir führen intensive, mitunter auch schwierige Diskussionen vor Ort und werben für die notwendige Akzeptanz. Wir müssen dringend mehr Tempo beim Leitungsausbau machen. Die Energiewende wird nicht funktionieren, wenn es uns nicht gelingt, den Strom aus erneuerbarer Energie dorthin zu bringen, wo er gebraucht wird.
Sie sagen Ihren Bürgern: Wir müssen die Stromleitungen, die auch NRW und Bayern versorgen, durch das schöne Niedersachsen bauen?
WEIL Ja. Dafür treten wir laut und deutlich ein. Wir haben gute Bürgerbeteiligungsmöglichkeiten, was die Konflikte reduziert, aber wir müssen noch deutlich schneller werden. Die Fertigstellung der geplanten Stromtrassen von der Küste in den Süden ist bis 2025 kaum noch möglich.
Wie wollen Sie das machen?
WEIL Wir müssen von anderen Ländern lernen. Wir sind ja nicht nur im Energiesektor zu langsam – das gleiche Problem haben wir auch bei großen Verkehrsvorhaben. Es gibt andere Rechtsstaaten wie Dänemark oder die Niederlande, die eine Realisierung großer Infrastrukturprojekte wesentlich schneller schaffen als wir. Dort werden Entscheidungen für Infrastrukturprojekte häufig durch die Parlamente getroffen, die Projekte bleiben nicht in langen Verwaltungsverfahren stecken. Das ist eine Methode, die wir uns zum Vorbild nehmen sollten, um zu einer schnelleren Umsetzung großer Infrastrukturvorhaben zu kommen.
Und die Bürger bleiben außen vor?
WEIL Nein. Vor der Entscheidung durch ein Parlament sollte es eine breite Bürgerbeteiligung geben, so wie das auch in den Niederlanden und Dänemark gemacht wird.
Die Union schlägt bei den Themen Integration und Migration schärfere Töne an. Sind die mit der großen Koalition vereinbar?
WEIL Der Workshop, den die Union veranstaltet hat, war nicht mehr als ein Wunschkonzert in Sachen Abschiebung. Ja, wir müssen bei der Abschiebung effizienter werden, dafür hat die Ministerpräsidentenkonferenz auch einen wegweisenden Beschluss gefasst. Aber Integration ist für die Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft wesentlich entscheidender. Bei der Union gibt es zurzeit viele Forderungen, die über das Ziel hinausschießen und mit der SPD nicht zu machen sein werden – beispielsweise die massive Ausweitung der Abschiebehaft.
Ex-Kanzler Schröder hat SPD-Chefin Nahles die Wirtschaftskompetenz abgesprochen. Können Sie das nachvollziehen?
WEIL Ich schätze Schröder bekanntlich sehr. Aber in diesem Punkt teile ich seine Auffassung ausdrücklich nicht.
Es gibt eine ganze Reihe von neuen Sozialstaatskonzepten der SPD. Müssen dafür Steuern und Abgaben steigen?
WEIL Das sehe ich nicht. Die Grundrente wird voraussichtlich am stärksten zu Buche schlagen. Mit mindestens fünf bis sechs Milliarden Euro pro Jahr!
WEIL Das ist aber nur die Hälfte der Summe, die die Union an Erleichterungen für die zehn Prozent der Bürger mit den höchsten Einkommen erreichen will. Die Union will den Soli ja komplett abschaffen, während der Koalitionsvertrag nur eine Entlastung für 90 Prozent der Steuerzahler vorsieht. Würden auch die restlichen zehn Prozent entlastet, würde das elf Milliarden Euro weniger Einnahmen bedeuten. Da kann ich als Sozialdemokrat aus tiefer Überzeugung sagen: Mir sind Millionen ältere und ärmere Menschen wichtiger als Entlastungen für die bestverdienenden Steuerbürger.
BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.