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Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Doch seinen neuen Job in der amerikanischen Abteilung konnte er auch deswegen kaum genießen, weil er kurz darauf unter Verdacht stand, Homer zu sein. Meredith Gardner hatte eine alte Nachricht vom Juni 1944 entschlüsselt, die klar zeigte, dass der Spion Homer eine schwangere Ehefrau hatte, die damals bei ihrer Mutter in New York lebte. Das traf nur auf Donald Maclean zu. Von diesem Zeitpunkt an wurde er vom MI5 überwacht. Einem Profi wie ihm konnten die dunklen Gestalten nicht entgehen, die nun überall auftauchten. Es waren MI5-Beamte, die sogenannten „Watchers“, die ihren Job mit offensichtlichem Unwillen erledigten und, wie sich später herausstellte, nicht besonders professionell agierten. Ihr Anblick verstärkte jedoch Macleans Angst.
Als Burgess im Mai 1951 auftauchte und ihm einen Zettel mit der Aufforderung zuschob, sie sollten sich im Reform Club treffen, wussten sie beide, dass ihnen nicht mehr viel Zeit zum Handeln blieb. Burgess hatte erfahren, dass Homer alias Maclean spätestens am Montag, den 28. Mai verhaftet werden sollte.
Es war bereits Freitag, der 25. Mai, Macleans achtunddreißigster Geburtstag. Dass er Geburtstag hatte, sollte sich als vorteilhaft erweisen. Anscheinend wollte man ihn mit Rücksicht auf seine Familie nicht an diesem besonderen Tag festnehmen.
Beim Mittagessen im Reform Club teilte Burgess ihm in knappen Worten den Fluchtplan mit. Ob Maclean danach noch viel essen konnte, bleibt fraglich. Im Anschluss an das Gespräch trennten sie sich demonstrativ. Burgess ließ einige Zeit verstreichen, bevor er den Pförtner bat, ihm eine Telefonverbindung mit einer Autovermietung herzustellen. Er mietete einen Wagen und vereinbarte, ihn am 4. Juni 1951 zurückzubringen.
Maclean war mittlerweile in einen anderen Club gegangen, den Travellers. Er hatte dort einen Scheck eingelöst. Das war nicht ungewöhnlich, er tat das jeden Freitag, um Melinda genügend Bargeld für die Haushaltskasse mitzubringen. Er hatte dann seine Vorgesetzten gebeten, Samstag freinehmen zu dürfen, um mit seiner Familie Geburtstag zu feiern (damals arbeiteten Beamte noch am Samstag). Der freie Tag sollte ihm den entscheidenden Vorsprung geben.
Burgess blieb nur noch wenig Zeit, um alles Weitere zu regeln. Er holte das gemietete Auto ab und redete mit seinem neuen Liebhaber, dem Medizinstudenten Miller. Er sagte ihm, dass sie jetzt leider doch keine gemeinsame Reise nach Frankreich unternehmen könnten, da er dringend einem Kollegen helfen müsse. Dann informierte er seinen alten Lebensgefährten, Jack Hewit. Hewit teilte der Polizei später mit, Burgess habe ihm gesagt, er müsse dringend verreisen. Er packte ein paar Kleidungsstücke ein, dreihundert Pfund in bar und eine Gesamtausgabe von Jane Austen. Hewit lieh ihm einen warmen Mantel, obwohl es Frühling war. Weder den Mantel noch Burgess würde er je wiedersehen.
In der Zwischenzeit hatte Maclean sich auf seinen üblichen Heimweg gemacht. Die Watchers folgten ihm und registrierten, dass er in den Vorortzug nach Kent einstieg. Maclean lebte mit seiner Familie in der Gartenstadt Sevenoaks, und der Zug nach Sevenoaks fuhr wie immer um 18.10 Uhr vom Bahnhof London Charing Cross ab. Die Watchers stiegen nicht mit ihm in den Zug, und von da an war Maclean ohne jede weitere Überwachung. Warum er nicht auch am Wochenende observiert wurde, konnte später niemand erklären.
Einen Agenten in ein feindliches Land einzuschleusen – zu „infiltrieren“– ist einfacher, als ihn zu „exfiltrieren“. Die Exfiltration ist ein Zauberkunststück, und wie bei allen Zaubertricks verrät der Magier nicht gerne seine Methoden.
Sie können schließlich ein Vermögen wert sein. Das traf auch auf die Flucht von Burgess und Maclean zu. Bis heute bleiben einige Fragen offen.
Maclean war gerade erst bei seiner Frau und den Kindern angekommen, als Burgess bereits an der Haustür klingelte. Die hochschwangere Melinda Maclean würde später aussagen, Burgess habe sich mit dem Namen Roger Stiles vorgestellt und angegeben, er sei ein Kollege ihres Mannes. Melinda war eine gute Geschichtenerzählerin, und sie würde bis Montagmorgen warten, bis sie dem Foreign Office die Geschichte von „Mr. Stiles“erzählte. Ihre Version lautete folgendermaßen:
Da ihr Mann am Freitag Geburtstag gehabt hätte, habe sie vermutet, Mr. Stiles sei ein unerwarteter Geburtstagsgast. Man habe ihn daher zum gemeinsamen Geburtstagsessen eingeladen. Sie habe zur Feier des Tages einen großen Schinken gekocht (in Großbritannien war Fleisch bis 1954 rationiert, und daher wussten alle eine solche Delikatesse zu schätzen). Melinda schien es nicht merkwürdig zu finden, dass der ihr unbekannte Mr. Stiles einfach so vorbeigekommen war. Sie schien es auch nicht merkwürdig zu finden, dass ihr Mann nach dem Dessert schnell ein paar Sachen zusammenpackte. Er habe ihr erklärt, er müsse mit Mr. Stiles kurzfristig verreisen. Nachdem ihr Mann und Burgess verschwunden waren, brachte Melinda die Kinder ins Bett. Erst am Montag, den 28. Mai informierte sie dann das Foreign Office.
Melinda erwähnte gegenüber den entsetzten Beamten natürlich auch nicht, dass Donald nach dem Kofferpacken eine Postkarte zerrissen hatte – die eine Hälfte behielt er, die andere Hälfte gab er Melinda. Es war eine alte, aber ausgesprochen nützliche Methode unter Spionen. Melinda wusste, dass eines
Tages jemand mit einer Nachricht für sie kommen und ihr die andere Postkartenhälfte als Beleg mitbringen würde. Dann könnte sie die beiden Hälften wieder zusammensetzen. Sie würde Donald in die Sowjetunion folgen, und sie würden wieder eine Familie sein. Melinda war entschlossen, das nicht nur für die Kinder zu tun, sondern auch aus ideologischer Überzeugung. Macleans Arbeit für die Russen war der Hauptgrund gewesen, warum sie ihn nie verlassen hatte – hinter der Fassade der perfekt frisierten Diplomatenfrau steckte eine überzeugte Kommunistin.
Niemand im Foreign Office stellte Melindas Version infrage. Ganz im Gegenteil, man glaubte ihr jedes Wort. Sie war eine damenhafte Frau aus der amerikanischen Oberschicht, die die besondere Gabe besaß, ihre Gesichtszüge immer unter Kontrolle zu halten.
(Fortsetzung folgt)