Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Er war ein vogelfreier Wissenschaftler geworden, der auf nichts und niemanden mehr Rücksicht zu nehmen brauchte. Nur einer Verpflichtung konnte er dann doch nicht entkommen. Er musste Jenny besuchen. Seit Wochen hatte er diesen Besuch hinausgeschoben. Wie die meisten Menschen hasste Hunt Krankenhäuser, und ganz besonders hasste er das Cambridger Universitätskrankenhaus Addenbrookes. Es war ein Labyrinth mit einem grauenhaften Parkhaus, in dem man den verzweifelten Kranken und ihren Angehörigen auch noch Unsummen an Parkgebühren abnahm. In seiner Zeit als junger Tutor war Hunt öfters mit seinen Studenten hier in der Notaufnahme gelandet. Sie hatten ihn, meist nachts, heulend angerufen, weil sie volltrunken von Brücken in den Cam gesprungen waren oder sich auf irgendwelchen anderen idiotischen Wegen verletzt hatten.
Jetzt musste Hunt in die onkologische Abteilung, und das war noch um einige Grade härter als die Notaufnahme. Hier lagen die hoffnungslosen Fälle, und die wollte er wirklich nicht sehen. Aber es blieb ihm dieses Mal nichts anderes übrig.
Es dauerte fast vierzig Minuten, bis er Jennys Krankenzimmer gefunden hatte, nirgends auf der Station schien eine Krankenschwester zu arbeiten, und am Ende hatte eine Putzfrau ihm das Zimmer gezeigt. Es war ein Zweibettzimmer, anscheinend ein seltener Luxus in diesem Krankenhaus. Als er die Tür aufmachte, dachte er, die Putzfrau habe sich geirrt, das konnte nicht Jennys Zimmer sein. Im ersten Bett, nahe der Tür, schlief ein junges rothaariges Mädchen. In dem anderen Bett, am Fenster, lag eine ausgemergelte alte Frau, die ein gelbes Kopftuch trug. Es brauchte ein paar Sekunden, bis er verstand, dass es tatsächlich Jenny war. Sie hatte das Kopfende ihres Betts hochgestellt und starrte auf den Fernseher. Es liefen Bilder von Weltkriegsveteranen, die der Queen die Hand schüttelten. Die neunundachtzigjährige Elizabeth II. sah jünger aus als Jenny. Hunt versuchte, nicht zu zeigen, wie erschrocken er war. Als Jenny ihn bemerkte, lächelte sie.
„Ich sehe furchtbar aus.“
„Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt“, log Hunt.
Sie kramte nach der Fernbedienung. Es fiel ihr sichtlich schwer, den Ausschaltknopf zu finden.
„Bist du hier, um das Kriegsende zu feiern, Hunt?“
Er versuchte fröhlich zu klingen, „Unseres? Waren wir im Krieg miteinander?“
„Eine Zeit lang.“
Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett.
„Mein Fehler.“
„Und was sagst du zum Wahlausgang gestern?“
Hunt schnaubte: „Sie waren beide unwählbar. Du hast Glück, dass du die nächste Regierungsperiode nicht mehr erleben musst.“
„Ja, Krebs hat auch seine Vorteile.“„Kann ich etwas tun?“
„Ich brauche einen Nachlassverwalter.“
„Das ist kein Problem“, sagte Hunt.
„Bist du sicher?“
Hunt lachte sein altes Wolfslachen. „Ich bin besser geworden, was Papierkram betrifft. Ich werde deine Unterlagen ordnen.“
„Und was kann ich für dich tun, Hunt?“
„Wie kommst du darauf, dass ich etwas will?“
„Weil ich dich seit fünfundvierzig Jahren kenne.“
Er schaute auf das Bett von Jennys Nachbarin. Die roten Haare mussten eine Perücke sein. Das arme Mädchen schien zu schlafen, aber vielleicht schlief sie nicht, sondern war schon tot. Auf dieser Station schien der Unterschied marginal.
„Also gut, ja. Warum genau hat Stef mich gehasst?“
Jenny rollte mit den Augen. „Ist das eine ernsthafte Frage?“
„Wegen der kleinen Affäre mit seiner Frau? Da hätte er halb Cambridge hassen müssen.“
„Hunt! Der Mann wurde nach der Sache mit dir im Garden House Hotel von der Universität verwiesen. Seine akademische Karriere war beendet, bevor sie begonnen hatte. Wenn er nicht so begabt gewesen wäre, hätte er nie seine eigene Firma gründen können. Er hat sich mühsam wieder nach oben arbeiten müssen, es hat ihn Jahre gekostet. Er hat nie eine akademische Anerkennung bekommen, er hat ...“
Hunt unterbrach sie.
„Ja, ja, sicher. Aber das war nicht meine Schuld. Das mit dem Garden House war einfach nur Pech. Sie erwischten ihn und nicht mich, als wir vom Dach runterkamen. Er war einer von vielen Studenten, die danach von der Uni verwiesen wurden.“
„Du bist davongekommen, obwohl du damals den Stein geworfen hast, Hunt.“
„Das glaubst du?“
„Glauben? Es war so, ich war da. Erinnerst du dich?“
„Ich erinnere mich sehr genau. Du hattest an dem Tag Fieber und warst völlig weggetreten .“
„Aber ich war nicht blind!“
„Ich hab den Stein nicht geworfen, Jenny.“
„Ja sicher.“
„Ich wollte ihn werfen, das stimmt. Aber Stef hat ihn mir aus der Hand geschlagen und nach hinten geworfen, in die Dachrinne.“
„Hunt! Der Proktor und ein Student wurden von zwei Steinen am Kopf getroffen, sie waren schwer verletzt.“
„Ja, aber es konnte nie nachgewiesen werden, wer die Steine geworfen hat.“
„Weil ich für dich gelogen habe.“„Du hast was?“
„Warum, glaubst du, arbeite ich seit fünfundvierzig Jahren für diese Leute?“
Hunt schaute sie an. Sie sah skelettös aus, jede Ader in ihrem Gesicht schien blau hervorzutreten. Er wollte die alte Jenny wiederhaben, und er hatte Angst, dass seine Hände wieder anfangen könnten zu zittern.
„Du hast einen Deal mit den Sicherheitsbehörden gemacht? Einen Deal für mich? Ist das dein Ernst?“
„Nein, ich habe mir das gerade eben ausgedacht.“
Hunt griff nach ihrer Hand, sie war sehr leicht und schien kleiner geworden zu sein. Als er wieder sprechen konnte, klang seine Stimme gepresst: „Du hast damals zu mir gesagt, wir müssen aufhören mit der politischen Agitation, sonst würden wir nie große Bücher schreiben.“
„Und du hast nur dieses eine Mal auf mich gehört“, sagte Jenny. „Der Deal, den ich gemacht habe, war eine rein egoistische Entscheidung.
(Fortsetzung folgt)