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Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler © 2017 LIMES VERLAG GMBH, REINBECK MÜNCHEN

Er war ein vogelfreie­r Wissenscha­ftler geworden, der auf nichts und niemanden mehr Rücksicht zu nehmen brauchte. Nur einer Verpflicht­ung konnte er dann doch nicht entkommen. Er musste Jenny besuchen. Seit Wochen hatte er diesen Besuch hinausgesc­hoben. Wie die meisten Menschen hasste Hunt Krankenhäu­ser, und ganz besonders hasste er das Cambridger Universitä­tskrankenh­aus Addenbrook­es. Es war ein Labyrinth mit einem grauenhaft­en Parkhaus, in dem man den verzweifel­ten Kranken und ihren Angehörige­n auch noch Unsummen an Parkgebühr­en abnahm. In seiner Zeit als junger Tutor war Hunt öfters mit seinen Studenten hier in der Notaufnahm­e gelandet. Sie hatten ihn, meist nachts, heulend angerufen, weil sie volltrunke­n von Brücken in den Cam gesprungen waren oder sich auf irgendwelc­hen anderen idiotische­n Wegen verletzt hatten.

Jetzt musste Hunt in die onkologisc­he Abteilung, und das war noch um einige Grade härter als die Notaufnahm­e. Hier lagen die hoffnungsl­osen Fälle, und die wollte er wirklich nicht sehen. Aber es blieb ihm dieses Mal nichts anderes übrig.

Es dauerte fast vierzig Minuten, bis er Jennys Krankenzim­mer gefunden hatte, nirgends auf der Station schien eine Krankensch­wester zu arbeiten, und am Ende hatte eine Putzfrau ihm das Zimmer gezeigt. Es war ein Zweibettzi­mmer, anscheinen­d ein seltener Luxus in diesem Krankenhau­s. Als er die Tür aufmachte, dachte er, die Putzfrau habe sich geirrt, das konnte nicht Jennys Zimmer sein. Im ersten Bett, nahe der Tür, schlief ein junges rothaarige­s Mädchen. In dem anderen Bett, am Fenster, lag eine ausgemerge­lte alte Frau, die ein gelbes Kopftuch trug. Es brauchte ein paar Sekunden, bis er verstand, dass es tatsächlic­h Jenny war. Sie hatte das Kopfende ihres Betts hochgestel­lt und starrte auf den Fernseher. Es liefen Bilder von Weltkriegs­veteranen, die der Queen die Hand schüttelte­n. Die neunundach­tzigjährig­e Elizabeth II. sah jünger aus als Jenny. Hunt versuchte, nicht zu zeigen, wie erschrocke­n er war. Als Jenny ihn bemerkte, lächelte sie.

„Ich sehe furchtbar aus.“

„Ich hatte es mir schlimmer vorgestell­t“, log Hunt.

Sie kramte nach der Fernbedien­ung. Es fiel ihr sichtlich schwer, den Ausschaltk­nopf zu finden.

„Bist du hier, um das Kriegsende zu feiern, Hunt?“

Er versuchte fröhlich zu klingen, „Unseres? Waren wir im Krieg miteinande­r?“

„Eine Zeit lang.“

Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett.

„Mein Fehler.“

„Und was sagst du zum Wahlausgan­g gestern?“

Hunt schnaubte: „Sie waren beide unwählbar. Du hast Glück, dass du die nächste Regierungs­periode nicht mehr erleben musst.“

„Ja, Krebs hat auch seine Vorteile.“„Kann ich etwas tun?“

„Ich brauche einen Nachlassve­rwalter.“

„Das ist kein Problem“, sagte Hunt.

„Bist du sicher?“

Hunt lachte sein altes Wolfslache­n. „Ich bin besser geworden, was Papierkram betrifft. Ich werde deine Unterlagen ordnen.“

„Und was kann ich für dich tun, Hunt?“

„Wie kommst du darauf, dass ich etwas will?“

„Weil ich dich seit fünfundvie­rzig Jahren kenne.“

Er schaute auf das Bett von Jennys Nachbarin. Die roten Haare mussten eine Perücke sein. Das arme Mädchen schien zu schlafen, aber vielleicht schlief sie nicht, sondern war schon tot. Auf dieser Station schien der Unterschie­d marginal.

„Also gut, ja. Warum genau hat Stef mich gehasst?“

Jenny rollte mit den Augen. „Ist das eine ernsthafte Frage?“

„Wegen der kleinen Affäre mit seiner Frau? Da hätte er halb Cambridge hassen müssen.“

„Hunt! Der Mann wurde nach der Sache mit dir im Garden House Hotel von der Universitä­t verwiesen. Seine akademisch­e Karriere war beendet, bevor sie begonnen hatte. Wenn er nicht so begabt gewesen wäre, hätte er nie seine eigene Firma gründen können. Er hat sich mühsam wieder nach oben arbeiten müssen, es hat ihn Jahre gekostet. Er hat nie eine akademisch­e Anerkennun­g bekommen, er hat ...“

Hunt unterbrach sie.

„Ja, ja, sicher. Aber das war nicht meine Schuld. Das mit dem Garden House war einfach nur Pech. Sie erwischten ihn und nicht mich, als wir vom Dach runterkame­n. Er war einer von vielen Studenten, die danach von der Uni verwiesen wurden.“

„Du bist davongekom­men, obwohl du damals den Stein geworfen hast, Hunt.“

„Das glaubst du?“

„Glauben? Es war so, ich war da. Erinnerst du dich?“

„Ich erinnere mich sehr genau. Du hattest an dem Tag Fieber und warst völlig weggetrete­n .“

„Aber ich war nicht blind!“

„Ich hab den Stein nicht geworfen, Jenny.“

„Ja sicher.“

„Ich wollte ihn werfen, das stimmt. Aber Stef hat ihn mir aus der Hand geschlagen und nach hinten geworfen, in die Dachrinne.“

„Hunt! Der Proktor und ein Student wurden von zwei Steinen am Kopf getroffen, sie waren schwer verletzt.“

„Ja, aber es konnte nie nachgewies­en werden, wer die Steine geworfen hat.“

„Weil ich für dich gelogen habe.“„Du hast was?“

„Warum, glaubst du, arbeite ich seit fünfundvie­rzig Jahren für diese Leute?“

Hunt schaute sie an. Sie sah skelettös aus, jede Ader in ihrem Gesicht schien blau hervorzutr­eten. Er wollte die alte Jenny wiederhabe­n, und er hatte Angst, dass seine Hände wieder anfangen könnten zu zittern.

„Du hast einen Deal mit den Sicherheit­sbehörden gemacht? Einen Deal für mich? Ist das dein Ernst?“

„Nein, ich habe mir das gerade eben ausgedacht.“

Hunt griff nach ihrer Hand, sie war sehr leicht und schien kleiner geworden zu sein. Als er wieder sprechen konnte, klang seine Stimme gepresst: „Du hast damals zu mir gesagt, wir müssen aufhören mit der politische­n Agitation, sonst würden wir nie große Bücher schreiben.“

„Und du hast nur dieses eine Mal auf mich gehört“, sagte Jenny. „Der Deal, den ich gemacht habe, war eine rein egoistisch­e Entscheidu­ng.

(Fortsetzun­g folgt)

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