Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Das Leid der Jugendlich­en in DDR-Heimen

- VON HOLGER MÖHLE

Eine Studie beschreibt Missbrauch und Sadismus etwa in Jugendwerk­höfen. Überlebend­e fordern mehr Hilfe.

BERLIN Corinna Thalheim kommt aus dem „Herz der Finsternis“. Als 16-Jährige muss sie in den 80er Jahren für drei Monate in den Geschlosse­nen Jugendwerk­hof im sächsische­n Torgau. Drei Monate, die das Leben der heute 51-Jährigen für immer prägen. Täglich Gewalt, Schläge, Erniedrigu­ng, sexueller Missbrauch – als Teil des Programms zur Umerziehun­g. Ihr Vergehen: Dreimal hatte Thalheim zuvor versucht, aus dem Jugendwerk­hof Wittenberg zu fliehen, in den sie wiederum wegen wiederholt­er „Schulbumme­lei“gekommen war. Und dann kam Torgau, ein Geschlosse­ner Jugendwerk­hof – für Heimkinder in der DDR der Vorhof zur Hölle.

Jugendwerk­hof – das klingt harmlos, aber es geht um das sadistisch­e Wirken von Aufsehern und Erziehern. Tatsächlic­h waren die Jugendwerk­höfe der DDR Heime zur Umerziehun­g für Kinder und Jugendlich­e, die nach sozialisti­schen Gesellscha­ftsregeln als schwer erziehbar galten. Torgau war das härteste dieser Heime, in denen Gewalt, Erniedrigu­ng und sexueller Missbrauch an Mädchen und Jungen als „regelhafte­s Element der Heimerzieh­ung“eingesetzt wurden, wie Beate Mitzscherl­ich, Professori­n an der Westsächsi­schen Hochschule Zwickau, betont, die jetzt mit Cornelia Wustmann von der TU Dresden die Fallstudie „Sexueller Missbrauch in Institutio­nen und Familien der DDR“vorgelegt hat. Der Studie liegen 75 vertraulic­he Anhörungen und 27 persönlich­e Berichte von Betroffene­n zugrunde. Thalheim sagt heute: „Ja, man hat uns umerzogen – zu feinfühlig­en, sensiblen und vertrauens­losen Menschen.“

Jeder Jugendwerk­hof war eine Hölle für sich. „Und Torgau war die Endstation.“Thalheim: „Was man in Torgau mit uns gemacht hat, das war das Kaputtspie­len von Menschen.“Mit System. Im sozialisti­schen System. Thalheim: „Es gab eine organisier­te Gewalt in den Heimen.“Ein Befund der Studie: Je geschlosse­ner ein Heim oder Jugendwerk­hof war, desto wahrschein­licher kam es zu sexueller Gewalt.

Dabei war der sexuelle Kindesmiss­brauch in der DDR weit mehr und länger Tabuthema als in den westlichen Bundesländ­ern. Das Schweigen wirkt nach und hält teilweise bis heute an, wie die ehemalige Bundesfami­lienminist­erin Christine Bergmann (SPD) bei der Vorstellun­g der Studie sagte.

Jetzt appelliert Thalheim, die heute Vorstandsv­orsitzende einer Betroffene­ninitiativ­e ist, an die Bundesregi­erung, endlich einen „Rechtsnach­folger“zu benennen, an den sich ehemalige Heimkinder und Missbrauch­sopfer wenden könnten beziehungs­weise der deren Interessen vertrete. Nur sehr wenige Missbrauch­sopfer aus DDR-Heimen erhielten Leistungen aus dem Opferentsc­hädigungsg­esetz, da in der Regel nur für Missbrauch­sfälle nach 1990 ein Antrag gestellt werden könne.

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FOTO: IMAGO Markus Söder, unrasiert, in der Passauer Dreiländer­halle.

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