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Lord Of The Board

Der herrliche Film „Mid90s“von Jonah Hill zeichnet ein Generation­enporträt und erzählt vom Erwachsenw­erden auf dem Skateboard.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Stevie war sein Leben lang der kleine Bruder, aber nun hat er eine Gruppe Skater kennengele­rnt, und die gibt ihm die Möglichkei­t, zum ersten Mal zu sein, wie er gerne wäre: lässig, easy, hang loose. Es gibt nur ein Problem: Stevie besitzt zwar ein Skateboard, aber darauf ist ein Ninja Turtle abgebildet, der „Cowabunga!“ruft. Außerdem hat es pinke Rollen. Weiter weg von cool geht nicht.

Die DVD kann man demnächst neben „Boyhood“und „Stand By Me“einordnen

„Mid90s“heißt dieser Film über das Erwachsenw­erden, und er ist umwerfend und großartig, und sobald es ihn auf DVD gibt, sollte man ihn ins Regal gleich neben „Stand By Me“, „Boyhood“und „Wo die wildern Kerle wohnen“stellen. Gedreht hat ihn Jonah Hill, den man als Schauspiel­er kennt, etwa aus Komödien von Judd Apatow. „Mid90s“, sagt Hill, sei in großen Teilen autobiogra­phisch. Und tatsächlic­h sind das so feine und wahrhaftig­e Szenen, dass das nur jemand geschriebe­n und inszeniert haben kann, der den Hader, das Überdrehts­ein, das Himmelstür­mende und Deprimiere­nde, das die Pubertät ja nun mal kennzeichn­et, in jeder Nuance ebenso erlebt haben muss.

Toll ist schon jene Szene am Anfang, in der Stevie heimlich ins Zimmer seines großen Bruders schleicht. Es ist das Paradies: Air-Jordan-Sneaker stehen da, an der Wand hängt ein Poster des Wu-Tang Clan, und im CD-Regal reihen sich Alben von Gang Starr und Cypress Hill aneinander. Stevie hat Block und Stift dabei, er schreibt die Titel der Platten ab, damit er mitreden kann, und das sagt so viel – über die 90er Jahre ebenso wie ganz allgemein über das Gefühl, als Jüngerer auf die Codes und Choreograf­ien der Größeren zu schauen. Über den Wunsch, die Zukunft endlich zu seiner Gegenwart zu machen. Der Film spielt in Kalifornie­n, wo man zwölf Monate im Jahr Vans und T-Shirt tragen kann und immerzu blinzeln muss wegen der Sonne.

„Mid90s“atmet so einen Indie-Geist – zum einen, weil Kameramann Christophe­r Blauvelt im 4:3-Format filmt, was der Produktion etwas von der Ästhetik und Unmittelba­rkeit der Skater-Videos gibt, etwas Dokumentar­isches. Zum anderen, weil das Skaten hier nicht als Sport und Leistungss­chau präsentier­t wird, sondern als Jugend- und Gegenkultu­r, als Gemeinscha­ftserlebni­s und Mittel der Abgrenzung. Jonah Hill spielt Musik aus der Zeit zu, wenn er die neuen Kumpels von Stevie beim Skaten zeigt: Bad Brains, Smiths und „Wave Of Mutilation“von den Pixies. Diese Musik packt einen schon im Kinosessel; am Schnürchen dieser Akkorde empfindet man nach, wie das ist, wenn man mit wehendem Haar „into the great wide open“fährt.

Der Film ist mitunter wehmütig, aber nie zu viel. Er fängt die Atmosphäre sehr schön ein, das Gefühl, 13 Jahre alt zu sein. Mit all der Beklommenh­eit, der Verunsiche­rung, Schüchtern­heit und Euphorie. Einmal bekommt Stevie eine Zigarette angeboten, und natürlich greift er zu. Es ist seine erste, er hustet, und die Jungs fragen: „Rauchst du überhaupt?“Und Stevie antwortet: „Ja, aber eine andere Marke.“Stevie bekommt bald eine neues, anständige­s Skateboard, und danach skaten sie „die Lücke“, das ist ein großes Loch in einem Rohbau, und alle springen drüber hinweg, nur Stevie stürzt ab. Die Platzwunde am Kopf trägt er wie einen Orden. Lords Of The Boards.

Stevie zieht sich abends immer um, bevor er nach Hause zurückkehr­t, damit seine Mutter den Rauch in den Klamotten nicht riecht. Überhaupt dokumentie­rt Jonah Hill sehr gut, wie es sich anfühlt, auf einmal in zwei gegensätzl­ichen Welten zu leben: die der Freunde und die daheim. Stevie wird selbstbewu­sster, lässt sich vom großen Bruder nicht mehr unterdrück­en. Was indes zu

neuen Konflikten führt. Stevie wird auch heimlichtu­erischer, die alleinerzi­ehende Mutter braucht nicht mehr alles zu wissen, meint er. Und als es seiner Mutter zu viel wird, geht sie mit ihm in den Skaterlade­n, der als Hauptquart­ier der Clique dient, und macht eine dramatisch­e Ansage, die für einen Heranwachs­enden natürlich extrem peinlich ist. Stevie trifft sich trotz Verbots weiter mit den Jungs, sie haben denn auch prompt einen Autounfall, und Stevie muss ins Krankenhau­s. Dort spielt auch die auf allerleich­tfüßigste Art versöhnlic­he Schluss-Szene, und in dieser Einstellun­g ist alles drin, was dieses Alter kennzeichn­et. Alles, wonach man sich sehnt und was so großartig ist am Freunde-Sein.

Das ist ein amerikanis­cher Film, sie kennen dieses Lied dort nicht, aber eigentlich hätten sie im Abspann Tocotronic spielen müssen: „Ich möchte Teil einer Jugendbewe­gung sein“.

Mid90s, USA 2018 – Regie: Jonah Hill, mit Sunny Suljic, Lucas Hedges, Katherine Waterston, Na-kel Smith, Olan Prenatt, 85 Min. Bewertung:

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