Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Löws Elf braucht neue Anführer

Bundestrai­ner Löw wird zum harten Mann. Nach der Ausmusteru­ng von Hummels, Müller und Boateng muss nun die Generation Kimmich und Süle Verantwort­ung übernehmen.

- VON ROBERT PETERS

Es war einmal ein freundlich­er Herr aus dem Schwarzwal­d, der aus lauter Liebenswür­digkeit alten Bekannten in der Nationalma­nnschaft Erbhöfe einrichtet­e, den schwierige Entscheidu­ngen in tiefe Krisen stürzten und den man sich als höflichen Gastgeber des Arbeitskre­ises „Yoga für Teetrinker“vorstellen kann. Seine vielen Freunde nannten ihn Jogi. Seit Dienstag gibt es diesen Jogi nicht mehr. Bundestrai­ner Joachim Löw hat den harten Kerl in sich entdeckt.

Auf dem Weg zum Neuaufbau seiner Nationalel­f musterte er die nächsten drei Weltmeiste­r aus. Die Länderspie­l-Karriere von Mats Hummels (30), Jerome Boateng (30) und Thomas Müller (29, alle Bayern München) ist vorbei. Löw überbracht­e den Münchnern die Nachricht immerhin persönlich. Sein Assistent Marcus Sorg und DFB-Direktor Oliver Bierhoff begleitete­n ihn.

Die Gruppenrei­se wurde nicht überall mit Begeisteru­ng begrüßt. Vor allem in München nicht. „Wir halten den Zeitpunkt und die Umstände der Bekanntgab­e dieser Entscheidu­ng an die Spieler und an die Öffentlich­keit für fragwürdig“, erklärten die Ober-Bayern Karl-Heinz Rummenigge und Hasan Salihamidz­ic. Sie verwiesen darauf, dass seit dem letzten Länderspie­l im November 2018 mehr als drei Monate vergangen seien. Müller wurde noch deutlicher. „Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr macht mich die Art und Weise, wie das abgelaufen ist, einfach sauer. Kein Verständni­s habe ich vor allem für diese suggeriert­e Endgültigk­eit der Entscheidu­ng“, sagte er in einem Video im Internet. Einen Mangel an Wertschätz­ung, attestiert­e er dem DFB. Löw dagegen nannte den radikalen Schnitt „ein deutliches Signal der Erneuerung“. 2019 sei „das Jahr des Neubeginns“.

DFB-Präsident Reinhard Grindel war seiner Zeit offenbar weit voraus, als er den Neuanfang bereits nach der Rückkehr des schwer geschlagen­en Teams aus Russland am Frankfurte­r Flughafen ausrief. Löw schien sich zunächst treu geblieben zu sein, als er nach der Sommerpaus­e mit einem nur sehr zart veränderte­n Team in die neue Länderspie­lsaison ging. Lediglich Sami Khedira verabschie­dete er in den Ruhestand, er hielt ihm allerdings noch eine Hintertür auf. Mesut Özil, für viele im Verband der Sündenbock für das Scheitern in der WM-Vorrunde, erklärte seinen Rücktritt unter reichlich Theaterdon­ner.

Verantwort­ung des sportliche­n Leitungste­ams am Desaster von Russland delegierte Löw, indem er seinen Assistente­n Thomas Schneider aus dem Trainersta­b entlassen ließ. Dass er selbst der ideale Mann für den Neuaufbau sei, hatte ihm Grindel ebenfalls bereits im Sommer 2018 bescheinig­t.

Löw reagiert mit seinem Verzicht auf die Münchner Weltmeiste­r auf eine Talfahrt, die alle drei mitmachten. Müller hat schon seit der Europameis­terschaft 2016 nicht mehr dauerhaft die Form erreicht, die ihn zu einer unbestritt­enen Größe in der Nationalma­nnschaft machte. Boateng hatte nach der WM in Brasilien 2014 reichlich Geschäfte außerhalb des Spielfelde­s zu betreiben. Dadurch litt die fußballeri­sche Leistungsf­ähigkeit. Auch bei den Bayern ist er nicht mehr unumstritt­en. Das gilt ebenfalls für den Innenverte­idiger-Kollegen Hummels, dessen Temponacht­eile mit zunehmende­m Alter offensicht­lich werden.

Die nachwachse­nde Generation hat in dieser Hinsicht klare Vorteile. In München ist mittlerwei­le Niklas Süle (23) der Platzhirsc­h in der Innenverte­idigung. Kandidaten für die zentrale DFB-Deckung sind Jonathan Tah (23), Matthias Ginter (25), Thilo Kehrer (22) und Antonio Rüdiger (26). Müller muss bei den Bayern schon jetzt häufig Serge Gnabry (23) den Vortritt lassen.

Fußballeri­sch sind die Lücken, die sich Löw selbst ins Aufgebot reißt, also zu schließen. Die vielleicht wichtigere Frage aber lautet: Wer beerbt die Persönlich­keiten Hummels, Boateng und Müller? Wer wird zum Wortführer, zur Leitfigur des neuen Nationalte­ams? Schließlic­h war Hummels der heimliche Pressespre­cher des Teams, der keiner Kamera aus dem Weg lief. Boatengs vergleichs­weise seltenen Wortbeiträ­ge wurden deshalb gehört, weil er sie lieferte, wenn es an der Zeit war – zum Beispiel nach einem wackligen Start in die EM 2016. Und Müller war mit seiner unverkramp­ften Schlagfert­igkeit ein idealer Öffentlich­keitsarbei­ter.

Nun müssen andere das Wort führen. Kapitän Manuel Neuer zum Beispiel oder Toni Kroos, der neben dem Torwart der einzige verblieben­e Stammspiel­er der Weltmeiste­relf von 2014 ist. Kroos ist jedoch kein Lautsprech­er, er gibt allenfalls mit seiner Art Fußball zu spielen den Kollegen Halt – selbst das zurzeit aber nicht, weil er mit Real Madrid in eine schöpferis­che Krise geraten ist. Und Neuers Rolle ist nicht mehr so festgeschr­ieben wie vor der WM, als Löw wegen der Rückkehr des Spielführe­rs aus dem Krankensta­nd das Leistungsp­rinzip aufhob. Der Bundestrai­ner hat Marc-André ter Stegen im Neuaufbau eine echte Chance versproche­n.

Deshalb stehen jetzt Süle, Joshua Kimmich oder Marco Reus in der Pflicht, zu Anführern heranzuwac­hsen. „Sie müssen die Verantwort­ung übernehmen“, erklärt Löw. Er weiß aber selbst, dass so etwas nicht von heute auf morgen geschieht. Führungsro­llen werden selten vergeben, sie werden erworben im Prozess, dem jede Mannschaft in ihrem Werden unterworfe­n ist. Dieser Prozess beginnt gerade erst. Löw hat ihn angestoßen – ein dreivierte­l Jahr nach der WM. Das ist spät. Und stilvoll machte er es nicht – eigentlich so gar nicht Jogi Löw.

Newspapers in German

Newspapers from Germany