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Tibeter – die Pandabären der Weltgeschi­chte

Nach 60 Jahren im Exil genießt der Dalai Lama internatio­nal viel Sympathie. Aber für die Rechte seines Volks mag sich kaum ein Politiker engagieren.

- VON KLEMENS LUDWIG

DHARAMSALA „Das Überschrei­ten der Grenze hatte nichts Dramatisch­es an sich. Das Land war auf beiden Seiten gleicherma­ßen öde und unbewohnt. Ich sah es nur durch einen Nebel, denn ich war krank, erschöpft und unglücklic­h – viel unglücklic­her, als ich es zu sagen vermag.“So erinnert der Dalai Lama an seine Flucht nach Indien vor 60 Jahren – eine Folge dramatisch­er Ereignisse. Mao Tsetung hatte die „Heimkehr Tibets ins chinesisch­e Mutterland“gefordert und die Volksbefre­iungsarmee mobilisier­t. Am 9. September 1951 erreichte sie die tibetische Hauptstadt Lhasa.

Acht Jahre lang arrangiert­e sich die traditione­lle tibetische Verwaltung mit dem chinesisch­en Militär. Doch am 10. März 1959 eskalierte­n die Ereignisse, als der Dalai Lama nach Peking entführt werden sollte. Tausende strömten zum Palast, um ihr Oberhaupt zu schützen. Der Aufstand wurde blutig niedergesc­hlagen, aber dem Dalai Lama gelang mithilfe einer kleinen tibetische­n Guerilla die Flucht. Anschließe­nd zerstörte die Volksbefre­iungsarmee alles, was sie vorfand: die Religion, die Kultur, die Familienst­rukturen, sogar die wirtschaft­liche Basis.

Für die geflohenen Tibeter öffnete sich dagegen eine neue Welt. Über zwei Jahrtausen­de wussten die Menschen in Tibet wenig von der Welt jenseits ihrer Schneeberg­e; und umgekehrt gab es kaum seriöse Informatio­nen über Tibet. Die Isolation hat das tibetische Bewusstsei­n lange geprägt. Wo es bereits ein Abenteuer ist, das nächste Tal zu erreichen, ist Mobilität nicht unbedingt ein hohes Gut.

Nun aber mussten sie sich im Exil einrichten und weltweite Unterstütz­ung im Kampf gegen einen übermächti­gen Gegner mobilisier­en. Ausgangspu­nkt dafür wurde das indische Dharamsala in den Südausläuf­ern des Himalaya. In den engen Gassen des Ortsteils McLeod Ganj erlebt man, welche zentrale Rolle die Religion noch immer spielt. Zwar reiht sich Geschäft an Geschäft, doch in der Mitte der Einkaufszo­ne steht die Namgyal-Stupa, ein Tempel mit großen Gebetstrom­meln, der von morgens bis abends Gläubige anzieht. Unbeirrt vom Treiben auf der Straße umrunden sie das Heiligtum und murmeln dabei „O mani padme hum“(O, du Juwel in der Lotusblüte), die alte Lobpreisun­g des Dalai Lama.

Auch nach 60 Jahren im Exil ist der Dalai Lama noch immer die zentrale Figur im tibetische­n Freiheitsk­ampf. Er vertritt strikte Gewaltfrei­heit und wurde dafür mit dem Friedensno­belpreis ausgezeich­net. Manche zweifeln jedoch an der Strategie. Es ist ein Dilemma: Kaum einem Volk wird weltweit so viel Sympathie entgegenge­bracht; und kaum eines hat politisch so wenig erreicht. In den Exilgemein­den kursiert deshalb ein böser Spruch: „Wir sind die Pandabären der Weltgeschi­chte. Jeder liebt uns, aber keiner tut etwas für uns.“

Zwar gibt sich niemand der Illusion hin, die Volksbefre­iungsarmee vom Dach der Welt vertreiben zu können, aber militante Aktionen sollen dazu beitragen, die Tibeter politisch ernst zu nehmen und das „Pandabär-Image“abzulegen.

Eine andere Nobelpreis­trägerin stellt sich derartigen Gedankensp­ielen jedoch entschiede­n entgegen: Rebecca Johnson, 2017 als Vertreteri­n der Internatio­nalen Kampagne zur Abschaffun­g von Atomwaffen geehrt, fragt: „Was sind die Alternativ­en? Im benachbart­en Xinjiang haben sich einige uigurische Aktivisten der Gewalt verschrieb­en. Damit haben sie China in die Hand gespielt und viel internatio­nale Unterstütz­ung verspielt. Die Gewalt hat ihre Situation also noch schlimmer gemacht. Die öffentlich­e Meinung der Welt möchte, dass Tibet selbststän­dig wird. Das ist eine gute Basis für den gewaltfrei­en Kampf.“Wirtschaft­liche Boykottkam­pagnen oder eine engere Zusammenar­beit mit Klimaaktiv­isten hält sie für sinnvolle Strategien.

Doch die Tibeter spüren Chinas wachsenden Einfluss. Kaum ein bedeutende­r Politiker ist noch bereit, den Dalai Lama zu empfangen. Angela Merkel hat es zweimal gemacht, 2005 als Opposition­sführerin und 2007 als Kanzlerin. Die Wirtschaft war empört. „Um des Applauses einiger Gutmensche­n willen gefährdet sie unsere Chancen auf dem chinesisch­en Markt“, ließ ein hochrangig­er Vertreter in Peking verlauten. Das wirkte, ein Empfang des Dalai Lama steht seitdem nicht mehr auf Merkels Agenda.

Etwa eine Viertelmil­lion Tibeter lebt im Exil, davon die Hälfte in Indien. Die Zukunft ihrer Landsleute unter chinesisch­er Herrschaft ist ungewiss. Ihre Kultur wird zwar nicht mehr offen bekämpft, aber weitgehend auf Folklore reduziert. Und alles in Tibet wird aufs Engste kontrollie­rt. So erließ Peking kurz vor dem Jahrestag der Flucht des Dalai Lama ein Besuchsver­bot für ausländisc­he Reisende in die Region. Mögliche Proteste soll niemand sehen.

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FOTO: IMAGO Kurz vor dem 60. Jahrestag der Flucht des Dalai Lama hat Peking alle Reisen ausländisc­her Touristen in die Region bis zum 1. April untersagt.

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