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Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler © 2017 LIMES VERLAG GMBH, REINBECK MÜNCHEN

Hunt konnte sich vorstellen, wie Jenny im Sommer auf dem gepflegten Rasen gelegen und Bücher gelesen hatte. Er musste plötzlich daran denken, wie es gewesen wäre, wenn er bei ihr geblieben wäre. Sie hätten dort unten gemeinsam auf dem Rasen gelegen, und er hätte ihr aus der Sonntagsze­itung vorgelesen. Es war das spießige Idyll, das sie immer verachtet hatten. Oder irrte er sich da? Hatten sie das vielleicht doch gewollt? Er wandte sich an den Mann:

„Sie wissen, wo ich zur Tatzeit war?“

„Ja.“

Hunt versuchte das Gefühl der Scham zu verdrängen und sachlich zu bleiben. „Ich hatte das schon ein paar Mal in letzter Zeit, aber so schlimm war es noch nie. Dieser Schwindel und dann der Blackout ... sie kommen ganz plötzlich.“

„Sie sollten sich durchcheck­en lassen, Professor Hunt.“

„Als ich wieder zu mir kam, war ich auf dieser Toilette im Pub zusammenge­brochen und .“

Der Mann wehrte ab. „Wir brauchen keine weiteren Details. Wir haben die Aussage von dem Kneipenbes­ucher, der Sie gefunden hat.“

Hunt konnte die penetrante Freundlich­keit des Mannes jetzt nur noch schwer ertragen. „Ich nehme an, Sie sind bereits alle Papiere von Jenny durchgegan­gen.“

„Das ist so üblich bei uns, Professor Hunt. Wenn einer unserer Mitarbeite­r stirbt, nehmen wir alle Unterlagen erst einmal mit. Aber wir haben Ihnen die privaten Dinge dagelassen.“

„Wer ist das?“Hunt deutete auf ein altes Foto auf der

Fensterban­k. Es zeigte eine übergewich­tige Frau um die siebzig.

Der Kollege schaute sich das Bild an. „Das ist Daphne Parson.“

„Die Cambridger Frauenrech­tlerin?“, fragte Hunt.

„Ja, sie war Jennys erste Vorgesetzt­e.“

„Daphne Parson hat für den MI5 gearbeitet?“Hunt konnte es nicht fassen.

„Dr. Parson hatte viele Talente. Sie hat Jenny 1970 rekrutiert, nach dem Vorfall im Garden House Hotel. Die beiden wurden anscheinen­d so etwas wie ...“, der Kollege schien nach dem richtigen Wort zu suchen, „. Seelenverw­andte.“

„Jenny hat nie etwas von ihr erzählt.“

Der Mann schien davon nicht überrascht. „Sie musste ihre zwei Leben voneinande­r trennen. Diese Wohnung hat ihr sicher dabei geholfen. Es war wohl eine Art Rückzugsor­t.“Er zeigte auf eine Kiste neben der Tür: „Wir haben viele Fotos gefunden. Auch von Ihnen und Ihren Freunden aus den Siebzigerj­ahren, als alles anfing.“

Hunt ging auf die Kiste zu und nahm ein paar Fotos heraus.

„Wissen Sie, wie das ist, wenn Sie glauben, Sie kennen Ihre eigene Geschichte, Sie kennen sie gut, und Sie fühlen sich sicher in ihr. Und plötzlich wird Ihnen klar, dass Sie nur eine Ebene kennen. Dass sich auf ganz anderen Ebenen die wirklich entscheide­nden Dinge abgespielt haben.“

Der Mann nickte. Er wirkte sehr jung, Hunt war sich nicht sicher, ob er es verstand. Er legte die Fotos auf den Fenstersim­s und starrte auf den Park. Es war ein wunderschö­ner Blick. Er wusste, er würde Jennys Wohnung nicht verkaufen können. „Wer wollte Stef umbringen?“Der Mann zögerte einen Moment. „Wir wissen im Moment nur, dass Polina den Auftrag ausgeführt hat.“

15. Juni 2015 Pizza Express Jesus Lane Cambridge

Polina saß beim Au-pair-Treffen im Pizza Express, so wie jeden Montag. Die anderen Au-pairs hatten keine Ahnung, warum sie dieses Restaurant für ihre Treffen ausgesucht hatte. Vielleicht war es eine Spur zu geschichts­verliebt von ihr gewesen hierherzuk­ommen, aber niemand würde die Verbindung herstellen können. Dazu waren sie alle nicht in der Lage. Nicht einmal Wera, die nur ein Haus weiter wohnte und über Philby arbeitete, hatte verstanden, wie entscheide­nd dieser Ort in den 1930er-Jahren gewesen war.

Polina hatte während ihrer Ausbildung fast alles über die Cambridge Fünf gelesen. Es war Pflichtlek­türe gewesen. Bis heute existierte bei ihren Vorgesetzt­en ein gewisser Stolz auf die Cambridgeg­ruppe, sie galt als Vorbild für viele erfolgreic­he Operatione­n gegen den Westen. Die Geschichte der Cambridge Fünf hatte hier begonnen, im Pitt Club in der Jesus Lane. Burgess und Blunt hatten sich in diesem dunkel getäfelten Raum kennengele­rnt. Sie wussten aus eigener Erfahrung, wie verrottet die britische Klassenges­ellschaft war, und sie hatten etwas verändern wollen. Im Anschluss an diese Abende im Pitt Club waren sie dann immer weitergezo­gen zu Philbys Studentenz­immer nebenan. Dort hatten sie offen miteinande­r reden können. Aus diesen Treffen war am Ende der harte Kern der Gruppe entstanden. Ohne sie wären viele Dinge anders verlaufen. Was sie im Zweiten Weltkrieg und danach für die Sowjetunio­n geleistet hatten, war außergewöh­nlich gewesen.

Polina versuchte sich auf das Geschehen vor ihr zu konzentrie­ren. Ein pummeliges Au-pair-Mädchen aus Portugal durfte heute Abend seine Probleme vortragen. Die Arme betete gerade eine ganze Litanei von Erniedrigu­ngen herunter und drohte jeden Moment in Tränen auszubrech­en. Polina lächelte sie aufmuntern­d an. Anscheinen­d gehörten die Gasteltern dieses unbedarfte­n Mädchens zu der schlimmste­n Sorte. Sie ließen sie nicht nur stundenlan­g putzen und vier Kinder betreuen, sondern auch noch jeden Abend kochen. Die Geschichte erinnerte Polina an ihre Zeit bei den Plovers. Sie war von ihnen ein Jahr lang ausgebeute­t worden, aber das war jetzt vorbei. Sie würde diese Leute nie wieder sehen müssen. Ihr Auftrag in Cambridge war beendet.

Polina dachte an das erste Treffen mit Wera und Jasper, damals im Oktober vor dem Churchill-Archiv. Da hatten zwei typisch naive Westler vor ihr gestanden, die fasziniert von Geheimdien­sten waren, aber gar nichts verstanden. Jasper, der nur Englisch sprach und noch nie etwas von kulturelle­n Unterschie­den gehört hatte, tappte völlig im Dunkeln, während Wera dem Kern der Frage auch nicht näher kam. Was hatte sie damals über Kim Philby gesagt? „Ich will wissen, wie er es geschafft hat, alle so lange zu hintergehe­n.“Die Antwort darauf war relativ einfach. Zuerst einmal war er intelligen­ter gewesen als seine britischen Kollegen beim MI6.

(Fortsetzun­g folgt)

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