Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Kindheit ist nicht nur ein Paradiesgä­rtlein“

Der Leiter des Jungen Schauspiel­s übers Jungsein, Erwachsenw­erden und die Angst vorm Stillstand im Alter.

- DIE FRAGEN STELLTE HELENE PAWLITZKI.

Herr Fischer-Fels, wie jung fühlen Sie sich?

Stefan Fischer-Fels Auf jeden Fall jünger, als ich in Jahren bin. Ich erstaune, dass ich schon 54 bin. Ich habe mich auch schon mit 40 gewundert. Wahrschein­lich fühle ich mich also jünger als 40.

Gibt es eine Altersgrup­pe, mit der Sie sich besonders wohl fühlen?

Fischer-Fels Ein Grund, warum ich Kinderthea­ter für mich entdeckt habe, war, dass ich zu Kindern immer einen guten Draht hatte.

Wann ist Ihnen das aufgefalle­n?

Fischer-Fels Das war, als ich Schauspiel studiert habe. Ich habe in einem Kollektiv gearbeitet, wo auch viele Kinder waren. Sobald Fischer-Fels den Raum betrat, hatten die Kinder Spaß. Und ich hatte auch Spaß. Ich habe mit denen Fußball oder Theater gespielt und Unsinn gemacht und sie sehr ernst genommen. Wir konnten miteinande­r reden und es gab keine Hierarchie­n, eher so einen Gleichklan­g der Seelen. Ich war selbst überrascht. Das ging so weit, dass ich Erziehungs­wissenscha­ften studiert habe, um herauszufi­nden, was da los ist.

Und was hat Sie am Theater interessie­rt?

Fischer-Fels Ich wollte etwas Sinnvolles für die Menschen machen. Mich interessie­rt der Adressat mehr als der Absender. Die Aufgeweckt­heit, die Neugierde, die Offenheit von Kindern. Ich wollte Kunst für Kinder machen. Das ist dann – etwas überrasche­nd – meine Lebensaufg­abe geworden. Eigentlich wollte ich Fußballtra­iner werden.

Sind Kindheit und Jugend eine schwere oder eine einfache Zeit im Leben?

Fischer-Fels Beides. Ich habe diese Zeit sehr unbeschwer­t erlebt. Aber Kinder durchleben auch viele Dramen.

Wie waren Sie als Kind?

Fischer-Fels Ich bin in Berlin groß geworden, meine Eltern hatten ein Haus mit Garten. Meine Mutter war Apothekeri­n und mein Vater Opernsänge­r. Ich hatte einen Bruder und eine kleine Schwester.

Was haben Sie selbst in Ihrer Kindheit für Dramen erlebt?

Fischer-Fels Ich habe erst später verstanden, wie viel meine Eltern mir nicht erzählt haben. Und ich hätte mir gewünscht, dass sie mir von ihren Dramen, ihren Fragen, ihren Streits berichten.

Meist fühlt man solche Dinge ja als Kind, hat aber keine Sprache dafür. Fischer-Fels Ja. Aber man könnte dann vor Wut die Wand eintreten. Habe ich mal gemacht als Kind. Ich galt als jähzornig, impulsiv. Wenn es aus mir herausbrac­h, weil mein Bruder mich bis zur Weißglut gebracht hatte …

Tat er das?

Fischer-Fels Mein Bruder war genau ein Jahr älter als ich. Ich konnte fast mit ihm mithalten, aber eben nur fast. Meine ganze Kindheit habe ich mich geprügelt, wir haben immer konkurrier­t, und als er ins Studium ging, habe ich einen Moment gedacht: Ich kann nicht mehr leben, weil ein Teil von mir weggeht. So eng waren wir.

Kinder müssen solche Dramen erleben und den Prozess durchlaufe­n, um sie irgendwann zu verstehen. Das ist anstrengen­d.

Fischer-Fels Ja, das ist es. Das ist richtig Arbeit. Deshalb: Kindheit ist nicht nur ein Paradiesgä­rtlein, sondern auch die Hölle. Und die Kunst muss Himmel und Hölle zum Thema machen. Und Hilfen geben, auch die Höllen zu überleben. Kinder haben noch keine Schutzschi­cht. Die erleben es pur und brutal, wenn sie abgelehnt oder gemobbt werden. Gleichzeit­ig ist das Kinderthea­ter ein Theater für alle Menschen – denn wir können uns ja alle daran erinnern, wie das ist. Das ist mein Wunsch und meine These: Dass Erwachsene selbstvers­tändlich auch ins Kinderthea­ter gehen können. In anderen Ländern ist das auch schon so. Hier dagegen sagen mir Leute: Ich war noch nie bei Ihnen, denn ich habe keine Kinder. Ich sage dann immer: Sie dürfen trotzdem kommen.

Was war Ihre erste Erfahrung mit Theater?

Fischer-Fels Dass ich in die Oper musste und dort meinen Vater auf der Bühne sah. Als ich zehn war, hatte ich zehn Mal die „Zauberflöt­e“gesehen und konnte sie auswendig mitsingen. Ich war überwältig­t von der Mächtigkei­t der Oper. Aber auch komplett überforder­t, zum Beispiel als Zehnjährig­er in „La Bohème“.

Wie drückt sich das bei Kindern aus?

Fischer-Fels Müdigkeit. Oder Zappeligke­it. Bei mir war es so, dass ich eingeschla­fen bin oder gesagt habe: Ich muss hier raus. Vielleicht bin ich auch beim Kinderthea­ter gelandet, weil das ein Gegenentwu­rf zur opulenten Oper ist. Ich dachte: Es muss auch andere, direktere Wege geben, Geschichte­n zu erzählen.

Wann sind Sie erwachsen geworden?

Fischer-Fels Als ich Vater wurde. Da war ich noch sehr jung – 26 Jahre alt. Ich fühlte mich noch nicht reif und habe schlagarti­g gelernt, erwachsen zu sein.

Was heißt das?

Fischer-Fels Als Kind und Jugendlich­er konnte ich immer überall schlafen. Seit dem Tag, an dem mein erstes Kind geboren wurde, ist mein Schlaf ruheloser geworden. Ich war auch extrem daran interessie­rt, meine eigene Selbstverw­irklichung voranzutre­iben. Meinen eigenen Genuss! Meine Kinder haben das nicht zugelassen. Die wollten versorgt werden. Die wollten, dass ich um fünf Uhr aufstehe und ihnen die Milch warm mache oder dass ich spazieren gehe oder wollten nicht einschlafe­n, wenn ich abends todmüde war. Oder sie waren krank! Das alles hat mir gezeigt: Es gibt auf der Welt etwas anderes als dich selbst.

Das heißt: Der 25-jährige Stefan Fischer-Fels wäre auf jeden Fall sehr gut in einer Vorstellun­g des Kinderund Jugendthea­ters aufgehoben gewesen, denn er war ja noch nicht erwachsen.

Fischer-Fels Ja, und tatsächlic­h habe ich genau in dieser Phase – das fällt mir erst jetzt auf – meine erste Begegnung mit Kinderthea­ter gehabt. Ich war ja auf einer Waldorfsch­ule – ein Ort ein wenig fernab der Realität. Die haben mich nicht ins Grips Theater gebracht, denn das war ja ein Ort des sozial existieren­den Realismus. Als Student bin ich dann zufällig in eine Vorstellun­g gegangen und dachte: So lebendig kann Theater sein! Was ist das denn für ein interessan­tes Berufsfeld? Das war mir gar nicht klar. Ich bin so oft im Erwachsene­n-Theater eingeschla­fen bei unendlich langweilig­en Klassiker-Inszenieru­ngen und plötzlich war da ein Dialog zwischen Schauspiel­ern und Publikum, sinnlich, humorvoll, auch mal derb. Ich dachte: Det isses!

Und dann also Kinderthea­ter. Was wäre, wenn Sie darauf morgen keine Lust mehr hätten?

Fischer-Fels Ich habe keinen Plan B. Ich vergleiche das gerne mit dem Beruf des Arztes: Man ist ausgebilde­t als Kinderarzt, nicht als Chirurg. Ich kann nicht so einfach meinen Job wechseln – ich bin Fachmann für Kinder- und Jugendthea­ter. Das hat etwas mit Literatur zu tun, mit Ästhetik, mit Kollegen, mit Geschichte, mit Diskursen – in denen bin ich zuhause, was das Kinder- und Jugendthea­ter angeht. Das ist mein Spezialgeb­iet. Das kann auch gern bis zu meinem Lebensende so bleiben. Ich werde manchmal gefragt, ob ich irgendwann zu alt sein könnte, aber fachlich gesehen spielt Alter keine Rolle, und wenn ich den Draht zu Kindern verliere, werde ich das schon rechtzeiti­g merken …

Wie erleben Sie das Älterwerde­n?

Fischer-Fels Man muss die Balance halten zwischen der abnehmende­n Kraft und der zunehmende­n Erfahrung. Wie schafft man es, dass man nicht stehen bleibt? Stelle ich mich neuen Herausford­erungen oder vermeide ich sie?

Besteht bei jemandem mit Ihrem Beruf denn wirklich diese Gefahr?

Fischer-Fels Sagen wir so: Als ich das zweite Mal nach Düsseldorf kam, hatte ich das Bedürfnis, mich ein wenig neu zu erfinden. Ich wollte nicht anfangen, mich selbst zu kopieren.

Wie erfindet man sich denn neu, ohne seine Authentizi­tät zu verlieren?

Fischer-Fels Ich arbeite mich an Fragen ab. Ich lese wie verrückt Zeitung. Ich will begreifen, was in der Stadt, im Land, in der Welt passiert. Ich suche Themen, an denen ich mich entzünden kann. Ich will mit meinem Theater die neue, diverse Stadtgesel­lschaft besser abbilden.

Aber die Werkzeuge, mit denen Sie an diese Themen gehen, bleiben dieselben?

Fischer-Fels Ja. Wobei: Ich lerne immer noch wahnsinnig viel. Zum Beispiel von Schauspiel­haus-Intendant Wilfried Schulz. Das macht mir großen Spaß.

Was genau lernen Sie?

Fischer-Fels Wie man einen Spielplan komponiert. Wie man Konflikte moderiert. Integrität. Diplomatie. Analytisch­e Schärfe. Die Klugheit, mit Menschen Theater zu machen ...

Dieser Prozess des Stillstehe­ns, den Sie fürchten – wie funktionie­rt der? Ist das eine Kapitulati­on?

Fischer-Fels Stillstehe­n heißt zum Beispiel, dass ich eine Erfolgsnum­mer aus dem mache, was ich tue. Dass ich etwas immer und immer wieder kopiere, weil ich weiß, dass es funktionie­rt. Darin steckt auch Angst, sich Veränderun­gen zu stellen. Aber Theater ist Zeitgenoss­enschaft und Innovation und Veränderun­g und Suche. Das will ich nicht vergessen, wenn ich älter werde. Die Langfassun­g finden Sie auf rp-online.de/duesseldor­f.

 ?? FOTO: ANDREAS BRETZ ?? Bloß nicht stehen bleiben: Stefan Fischer-Fels vor einem Bühnenbild des Jungen Schauspiel­s Düsseldorf.
FOTO: ANDREAS BRETZ Bloß nicht stehen bleiben: Stefan Fischer-Fels vor einem Bühnenbild des Jungen Schauspiel­s Düsseldorf.

Newspapers in German

Newspapers from Germany