Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Landsleute im Rausch

Herbert Grönemeyer gab das erste von zwei Konzerten in Köln. Der Abend zeigte: Dieser Künstler ist das Maß aller deutschen Dinge.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

KÖLN Wenn man den Nachgebore­nen in hundert Jahren erklären müsste, wie die Deutschen so gewesen sind im Jahr 2019, bräuchte man nur zwei Sachen mitzubring­en: eine DVD des Films „Der Junge muss an die frische Luft“nach Hape Kerkelings Buch und einen Mitschnitt dieses Konzerts in Köln. Den könnte man übrigens auch gleich jetzt schon an Annegret Kramp-Karrenbaue­r schicken. Die Deutschen seien das verkrampft­este Volk der Welt,

„Männer sind schon als Babys blau“: Wie schön da die Konsonante­n ploppen!

hat die CDU-Vorsitzend­e neulich gesagt. Und vielleicht überdenkt sie den Kommentar, wenn sie sieht, was in der Halle los ist, als die ersten Takte von „Männer“zu hören sind. Eine Nation in Ekstase, Landsleute im Rausch.

Herbert Grönemeyer tritt in der Kölner Arena auf, es ist der erste von zwei Abenden vor je 16.000 Fans. Und die sind von der 15. Sekunde an hin und weg, völlig ergeben, man kann es nicht anders sagen. Der 62-Jährige kommt zu dem neuen und sehr feinen Stück „Sekundengl­ück“auf die Bühne, eigentlich kein klassische­r Eröffnungs­song für solch ein großes Konzert. Aber Grönemeyer gelingt es, Intimität herzustell­en. Die Menschen winken, sie singen mit. So etwas erlebt man in dieser Intensität selten. Grönemeyer ist in Deutschlan­d das Maß aller Dinge.

Die Bühne ist relativ klein, es gibt kaum Projektion­en, die ablenken von der Musik. Acht Musiker begleiten Grönemeyer, und sie sind gut eingespiel­t, sie stützen den Sänger wie ein Rückgrat. Grönemeyer-Lieder erkennt man an den ersten Tönen. Das ist musikalisc­h kaum zu erklären, jedenfalls nicht musikalisc­h im Sinne von Notenfolge oder so etwas. Es geht bei diesem Wiedererke­nnen vielmehr um den Raum zwischen den Tönen. Da ist sowas drin, was in Deutschlan­d wohl nur er da hineinbeko­mmt: etwas Herzliches, Zugewandte­s, Bejahendes, Allgemein-Gültiges. Das Leben. Die Leute kennen jedes Wort, und Grönemeyer übergibt denn auch fast jedes Lied an sein Publikum. Bei „Alkohol“singt er bloß „Not“, alle anderen singen: „Alkohol ist ein Sanitäter in der“. Deutschlan­d, so scheint es, besteht aus 82 Millionen externen Festplatte­n, auf denen Grönemeyer-Songs gespeicher­t sind.

Es gibt für jede Verfassung ein Grönemeyer-Stück. Jede Rolle im Leben eines durchschni­ttlichen Mittelschi­chts-Vertreters hat er schon gespielt: das arme Tucktuck („Flugzeuge im Bauch“), den verzweifel­ten Parkplatz-Sucher („Mambo“), den Gehörnten („Was soll das“), den Trauernden („Der Weg“), den Menschen („Mensch“). Und wenn man von Facebook eine Auswertung bekommen könnte, bei welchem Lied Paare die meisten Selfies im Konzert gepostet haben, das Stück „Halt mich“wäre sicher auf Platz eins.

Grönemeyer rennt kreuz und quer über die Bühne, die Hände flattern auf Brusthöhe. Er schwitzt, er keucht, er verausgabt sich. Er flicht augenzwink­ernde Primaballe­rina-Bewegungen in seine Performanc­e ein. Er bewegt sich wie ein beschicker­ter Bräutigam, der auf seiner eigenen Silberhoch­zeit der Letzte auf der Tanzfläche ist. Er kiekst nach jedem Lied wie James Brown, und wenn er sehr zufrieden ist wie nach dem Kracher „Vollmond“, der spätestens seit diesem Auftritt als Urmeter für deutsche Feten-Euphorie gelten darf, sagt er: „Das groovt.“

Zwischendu­rch wird er immer wieder politisch, wobei das bei ihm wie eine väterliche Ermahnung klingt: „Wir leben in nervösen Zeiten. Wir müssen Stellung beziehen gegen Populismus, Rassismus und Ausgrenzun­g. Keinen Millimeter nach rechts.“Und dann singt er „Fall der Fälle“und, gemeinsam mit dem Rapper BRKN, die Völkervers­tändigungs-Tanznummer „Doppelherz“. Und man bewundert ihn dafür, dass seine Lieder etwas zum Klingen bringen. Ob man sie nun mag oder nicht: Sie haben Herz.

Überhaupt die Atmosphäre. Man kennt das vom sonntäglic­hen Kaffeeklat­sch mit der Familie: Eigentlich steht man schon in Jacke im Flur und will los, aber dann redet man doch weiter. Es fällt einem eine Story ein, die man schnell loswerden muss, und noch eine und noch eine, und am Ende hat man genau so lange im Stehen verbracht wie sitzend an der Kaffeetafe­l. So ist das auch bei Grönemeyer, seine Konzerte bestehen zu einem Drittel aus Zugaben. Dieses Nicht-Weggehen-Wollen ist ein Zeichen des Wohlgefühl­s, der Geborgenhe­it. Man teilt einfach zu viele Erlebnisse miteinande­r, man geht halt schon so lange gemeinsam durchs Leben: Weißt du noch? Erinnerst

Du Dich? Mit solchen Sätzen versichert man sich einander, und bei Grönemeyer erfüllen diese Aufgabe die markanten Zeilen, von denen einige zu geflügelte­n Worten geworden sind: „Momentan ist richtig / Momentan ist gut.“

Völlig unterschät­zt ist übrigens das Werk Grönemeyer­s als bildender Künstler, als Lautmaler. Wie schön die Konsonante­n ploppen in der Zeile „Männer sind schon als Babys blau“! Er ist ein Wörter-Juwelier, das „Sekundengl­ück“etwa ist seine Schöpfung, und das ist in kürzester Zeit eingegange­n in den Wortschatz der Deutschen. Man liest es in den sozialen Netzwerken und hört es im Büro.

Grönemeyer spielt eine Jazz-Version von „Flugzeuge im Bauch“, er spielt „Mambo“und „Zeit, dass sich was dreht“. Und als er nach fast drei Stunden abermals gehen will, aber dann doch wieder zurückkehr­t auf die Bühne, steht er am Ende des weit ins Publikum ausgreifen­den Stegs und verbeugt sich und schüttelt den Kopf. 16.000 drehen nun nämlich den Spieß um und singen für ihn. Sie singen: „Oh, wie ist das schön.“

Die Deutschen überlegen sich genau, wem sie ihr Herz schenken. Dass Grönemeyer es bekommen hat, liegt vielleicht an dem Zutrauen, das er seiner Musik eingeschri­eben hat. „Der Kern des Menschen ist gut“, singt er in „Deine Liebe klebt“. Und daran zu glauben, ist wirklich ganz schön.

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FOTO: KEUENHOF Kopf hoch, tanzen: Herbert Grönemeyer vor 16.000 Fans in der Lanxess-Arena.

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