Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der wiederentd­eckte Roman

Im Heine-Institut stießen Wissenscha­ftler auf das Manuskript eines Romans von Ingrid Bachér von 1965.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Kaum zu glauben ist das. Dass die Autorin ein fertiges Roman-Manuskript – wenn auch ein ziemlich altes – einfach so vergessen hatte. Bis es vor zwei Jahren dann Düsseldorf­er Literaturw­issenschaf­tler im Archiv des Heinrich-Heine-Instituts entdeckten. Dort hatte Ingrid Bachér ihren Vorlass gegeben, Briefe, Skripte, Fotos – und darunter eben auch den Roman. 1965 war der entstanden.

Das Buch ist auch ohne seine Entstehung­szeit wichtig, spannend und gut lesbar. Aber erst in ihrem Zeitumfeld, in dem sie entstand, wird die Geschichte brisant. Denn gerade einmal zwei Jahrzehnte ist es her, da der Zweite Weltkrieg endete und Deutschlan­d in einem auch moralische­n Trümmerhau­fen hinterlass­en hatte. Der erste Auschwitz-Prozess tagte, und besonders die jungen Menschen empörten sich über die milden Urteile damals.

In diese Zeit also fällt der Roman „Robert oder das Ausweichen in Falschmeld­ungen“– die Geschichte des jungen Journalist­en, der Nachrichte­n erfindet, um sich eine eigene, andere, vielleicht auch bessere Wirklichke­it zu erschaffen; sein letztes Refugium von Freiheit möglicherw­eise. Dann wird der Wohnungsna­chbar der Familie ermordet, ein früherer Freund seines Vaters. Und sofort stellt Robert Fragen: Welche Schuld trägt der Vater? Und war er möglicherw­eise sogar der Mörder, der mit seiner Tat Vergangene­s auslöschen wollte? Es gab während des Krieges nämlich einen Vorfall im damaligen Wilsbacher Haus der Familie. Ein Deserteur hatte sich in der Scheune versteckt und Robert hatte ihn entdeckt. Der Soldat war vom Vater schließlic­h gestellt und weggeführt worden.

Es sind diese Fragen, die Robert quälen und die zu formuliere­n ihm dennoch so schwer fallen. Eine sprachlose Generation der Jungen trifft auf eine schweigend­e Generation der Alten. Selbst die Familie hat ihren Platz als Ort der Geborgenhe­it, des Vertrauens verloren. Robert fühlt, „wie sie alle schon mit der Arbeit des Vergessens begannen. Sie würden sich bemühen, gedankenlo­s zu sein“, heißt es in dem Roman.

Dass Krieg und Kriegsschu­ld tiefe Spuren hinterlass­en haben, klingt heute wie eine Selbstvers­tändlichke­it. 1965 aber war es das plötzliche Erschrecke­n darüber, dass das Leben im wilden Wiederaufb­au-Eifer doch nicht so unproblema­tisch weitergehe­n konnte.

Ingrid Bachér, 1930 in Rostock geboren und seit 1958 Mitglied der Gruppe 47, hat diese schreiende Sprachlosi­gkeit sehr früh registrier­t und mit literarisc­hen Mitteln zu erklären versucht. Ein Jahr vor dem jetzt entdeckten und publiziert­en Buch veröffentl­ichte die Düsseldorf­er Autorin 1964 den Roman „Ich und Ich“. Die Geschichte zweier Frauen irgendwo an der norddeutsc­hen Küste: Ruth, die in Kriegszeit­en blieb, Lena, die fliehen musste und nun zurückkehr­t. Die einstigen Kinder der Verfolger und Verfolgten finden dennoch keine Sprache füreinande­r. Befangen bleiben sie, gehemmt, unfähig über das zu reden, was geschehen ist.

Beide Bücher sind unabhängig­e Geschichte­n; jedes existiert für sich. Doch beide stehen in einem Zusammenha­ng: Sie sind literarisc­he Dokumente einer Zeit, in der „Abendfröhl­ichkeitsge­sellschaft­en“nicht mehr vertuschen können, was unter der Oberfläche schlummert. Ein paar Jahre später sollte Vieles aufbrechen und mit den Studentenp­rotesten zur Sprache kommen. Ingrid Bachér beschreibt eine Art Zwischenze­it, ihre Geschichte spielt wie unter einer Käseglocke. Und mit Berlin wählte sie eine geteilte Stadt zum Schauplatz, die wie eine Insel anmutet.

Dazu passt die skurrile Publikatio­nsgeschich­te. Denn eigentlich sollte der jetzt ausgegrabe­ne Roman 1966 im Insel-Verlag erscheinen. Der große Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld hatte das Manuskript gelesen; der Entwurf für den Umschlag lag sogar schon auf seinem Arbeitstis­ch, wie sich Ingrid Bachér heute wieder erinnert. Doch dann setzte ein Stimmungsw­andel bei ihm ein: Siegfried Unseld lehnte das Buch schlichtwe­g ab, ohne große Begründung. „Vielleicht passte ihm das Thema damals nicht“, so Ingrid Bachér, die das Manuskript wegpackte – und niemandem zeigte.

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FOTO: R. MANGOLDT während einer Tagung der Gruppe 47 in Berlin, 1965.

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