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Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Seine Parteifreunde hatten Denys immer wieder versichert, welch großes Glück er habe, so eine Frau zu „besitzen“. Es wurde fast ein Standardsatz in der Partei: „Ich wünschte, meine Frau wäre eine Georgina.“
Solche Lobeshymnen hatte sie genossen - sie waren ihr großer Kim-Philby-Moment der Ironie. Und natürlich verschafften die Hymnen ihr Zugang in das innerste Sanktum der Konservativen Partei. Einer dicken Frau vertraut jeder - die Männer genauso wie ihre vernachlässigten Ehefrauen. Alle redeten mit Georgina. Sie wurde die Mutter der Kompanie, die Frau, mit der man sprach, wenn man in Schwierigkeiten geriet, der man Dinge erzählte, die man sonst nur seinem Hund anvertraute. Ja, sie hatte tatsächlich den Status eines treuen Hundes in diesen Kreisen erlangt. Was auch immer man ihr erzählte, sie spitzte die Ohren und blickte treuherzig.
Als studierte Biologin kannte sie alle Spezies, Verhaltensforschung war ihre Spezialität gewesen. Sie konnte schon bald erahnen, welcher Abgeordnete sich erpressbar gemacht hatte, weil er korrupt oder pädophil war, weil er Schulden hatte oder seine Sekretärin geschwängert hatte. Es war fantastisches Material für Erpressungen gewesen. Sie und ihr russischer Führungsoffizier hatten jahrelang davon gelebt.
Denys‘ Abschied von der Politik hätte unter anderen Umständen auch das Ende von Georginas Arbeit bedeuten können. Aber der Umzug von London nach Cambridge hatte ihrer Produktivität nicht geschadet.
Ausgerechnet das verschlafene Cambridge, das sie aus ihrer Jugend kannte, war mittlerweile auf dem Weg zu einem zweiten Silicon Valley geworden, hier wurde Forschung auf höchstem Niveau betrieben. Nicht die nutzlose Forschung von Hunt und all den überflüssigen Geisteswissenschaftlern, sondern die Forschung der Ingenieurs-,
Informatik- und Naturwissenschaften. Alle wollten an diese Informationen herankommen. Die Chinesen waren in Wirtschaftsspionage führend, und auch die Amerikaner versuchten, ihre britischen „Partner“abzuschöpfen. Nur die Russen hatten den Standort Cambridge lange vernachlässigt.
Georgina nahm jetzt Denys‘ Hand und drückte sie fest. Er schien von der Festigkeit überrascht, so etwas tat sie selten, aber er würde es rationalisieren, so wie er alles immer rationalisierte. Seine Frau hatte schließlich gerade ihre beste Freundin verloren, sie befand sich in einer Ausnahmesituation und reagierte daher besonders emotional. Manchmal fand sie seine Ahnungslosigkeit fast liebenswert, sie hatte etwas Kindliches an sich. Seit vierzig Jahren war Denys Teil ihrer Arbeit; wenn er mit siebzig als Master in Pension ging, würde er vielleicht noch geadelt werden. Sie wäre dann Lady Georgina, so wie es sich ihre Mutter immer gewünscht hatte. Sie war ein Monster an gesellschaftlichen Ambitionen gewesen, und Georgina hatte diese Ambitionen auf ihre Art erfüllt. Auch das war eine wunderbare Ironie.
Sie hörte mit halben Ohr zu, was der Pfarrer sagte. Seit wann war Jenny eigentlich anglikanisch gewesen? Auch das musste eine neue Erfindung von Hunt sein. Oder war sie kurz vorm Exitus plötzlich gläubig geworden? Unwahrscheinlich. Irgendjemand schien jetzt sogar zu schluchzen. Früher wäre so etwas nie möglich gewesen. Man blubberte nicht, schon gar nicht öffentlich, um sich wichtig zu machen. Georgina konnte den Anfang des Geschluchzes in Großbritannien ziemlich genau datieren. Es begann im Sommer 1997, als die irrlichternde Prinzessin Diana gegen einen Pfeiler raste. Die anschließend inszenierte Trauer- epidemie war ein klarer Beleg für die Amerikanisierung der britischen Gesellschaft. Früher hatte man sich nicht gehen lassen. Jetzt wurde es erwartet und eingefordert. Alles war nur noch Gefühlsduselei. Ständig und ununterbrochen erklärte jeder einem, was er fühlte. Alle fühlten nur noch, kein Mensch dachte mehr.
Polina war ein Mädchen, das denken konnte und sich nicht von Gefühlen ablenken ließ. Georgina hatte anfangs nichts von ihrer Existenz gewusst, es war nicht üblich, dass man sich untereinander kannte. Sie wusste natürlich, dass sie nicht allein in Cambridge arbeitete, aber sie hatte bis Anfang Januar nicht geahnt, wer die Kollegen waren und wo sie eingesetzt waren. Wahrscheinlich hätte sie Polina nie kennengelernt, wenn nicht bei einer Routinedurchsuchung von Stefs Schreibtisch der Stick mit dem Mitrochin-Material aufgetaucht wäre. Georgina schämte sich ein wenig dafür, aber sie war danach in Panik geraten. Stef hatte ganz offensichtlich herausgefunden, wer 1970 in Cambridge rekrutiert worden war. Es musste auch für ihn eine unangenehme Überraschung gewesen sein. Er wollte endlich, nach all den Jahren, den verhassten Hunt überführen und war dabei auf jemand völlig anderen gestoßen. Paddington war eine SIE. Und nicht irgendeine fremde Frau, sondern seine alte, harmlose Freundin Georgina, die ihn immer zu Collegeessen einlud und gelegentlich auf einen Gin Tonic bei ihm vorbeikam.
Nach einem dicken Bären benannt zu werden war nicht gerade schmeichelhaft für Georgina gewesen, auch wenn es eher um ihren Dufflecoat ging. Aus irgendeinem Grund hatte ihr sowjetischer Führungsoffizier das damals sehr amüsant gefunden, dass sie immer einen blauen Dufflecoat trug wie Paddington Bär. Vielleicht wusste er nicht, dass der Dufflecoat eine Art Uniform der Linken war, dass Michael Foot und viele andere britische Sozialisten in dieser Zeit Dufflecoats trugen und nicht nur ein dicker Kinderbuch-Bär.
Soweit Georgina wusste, existierte kein einziges Foto von ihr aus dieser Zeit mit dem blauen Dufflecoat. Sie hatte immer dafür gesorgt, dass sie die Fotos machte und nie die Fotografierte war. Trotzdem musste sich Stef an ihren Dufflecoat erinnert haben. Mit großer Wahrscheinlichkeit war dieser idiotische Kinofilm daran schuld. In der Vorweihnachtszeit hatte die Reklame mit dem Filmbären angefangen - Filmplakate mit Paddington im blauen Dufflecoat klebten an jeder Bushaltestelle. Bei jeder Paddington-Fernsehwerbung war sie zusammengezuckt. Man konnte dem idiotischen Tier nicht entkommen, und auch bei Stef musste es eine lang verschüttete Erinnerung freigelegt haben.
Es war schrecklich gewesen, nach so langer Zeit mit dieser alten Geschichte konfrontiert zu werden.