Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der Problem-Minister

Der Innenaussc­huss des NRW-Landtages wurde diese Woche zum Scherbenge­richt für Innenminis­ter Herbert Reul (CDU). Seine Antworten auf den Missbrauch­s- und Polizeiska­ndal von Lügde werfen immer mehr Fragen auf. Wird der Minister stürzen?

- VON THOMAS REISENER

DÜSSELDORF Als Herbert Reul (66) im Juni 2017 NRW-Innenminis­ter wurde, war seine Freude über die neue Aufgabe echt: „In einem Alter, in dem andere in den Ruhestand gehen, kann ich nochmal etwas ganz Neues anfangen“, sagte der gelernte Lehrer damals, den die meisten Menschen bis dahin allenfalls als einen Europapoli­tiker kannten, dessen Lieblings-Schrulle die Abschaffun­g der Winterzeit war.

Wie schnell sich die Zeiten ändern. Anderthalb Jahre später ist die Abschaffun­g der Winterzeit mehrheitsf­ähig und damit absehbar. Ob dem Innenminis­ter sein Amt aber noch immer so viel Freude wie am Anfang macht, ist zumindest an manchen Tagen fraglich: Im jüngsten Innenaussc­huss des Landtages stand Reul erneut mit dem Rücken an der Wand. Wie schon vor wenigen Wochen musste er wieder stundenlan­g erklären, warum auf einem Campingpla­tz in Lügde 31 Kinder trotz früher Hinweise jahrelang missbrauch­t und dabei gefilmt werden konnten, warum die Polizei zu spät eingegriff­en und bei der Aufklärung bislang dramatisch versagt hat, und warum er – Herbert Reul, der oberste Polizeiche­f des Landes – nun ausgerechn­et derjenige sein soll, der alles zum Guten wendet.

Schwer zu sagen, ob Reul den Missbrauch-Skandal von Lügde, der längst auch einer der größten Polizeiska­ndale der Landesgesc­hichte ist, politisch überlebt. Mit dem neuen Polizeiges­etz, der kräftigen und von der Vorgängerr­egierung verschlepp­ten Aufstockun­g der NRW-Polizei und seinem offensiven Umgang mit eigenen Fehlern hat Reul eigentlich schon die Grundlagen für seinen Einzug in die Hall of Fame der besten NRW-Innenminis­ter gelegt. Aber im Fall Lügde waren die Fehler seiner Beamten dermaßen haarsträub­end, dass der Skandal auch den Innenminis­ter persönlich beschädigt.

Zumal der Lügde-Skandal nicht das einzige Schattenka­pitel in Reuls noch junger Amtszeit ist. Da war auch noch der Tod des unschuldig inhaftiert­en Syrers, der in seiner Zelle in Kleve verbrannte. Auch da musste Reul schon einen schweren Fehler in seinem Verantwort­ungsbereic­h zugeben: Die Polizisten hätte es entgegen geltender Regeln versäumt, die Identität des 26-Jährigen näher zu überprüfen, gestand Reul im Oktober ein.

Im August relativier­te Reul die Unabhängig­keit der Gerichte, die zwar „ein hohes Gut“sei, aber die Richter sollten doch bitteschön immer auch das „Rechtsempf­inden der Bevölkerun­g“im Blick haben. Damals ging es um die gerichtlic­h untersagte Abschiebun­g des mutmaßlich­en Leibwächte­rs von Osama Bin Laden. Auch hier musste Reul bedauern, sich missverstä­ndlich ausgedrück­t zu haben.

Ein „verhängnis­volles Missverstä­ndnis“beklagte Reul auch im Juli nach einem antisemiti­schen Angriff in Bonn. Einem israelisch­er Hochschulp­rofessor aus den USA, der zu einem Gastvortra­g in Bonn war, wurde von einem jungen Mann mehrfach die Kippa vom Kopf geschlagen. Er wurde antisemiti­sch beschimpft und geschubst. Die alarmierte Polizei hielt den Professor für den Täter und schlug ihm mehrfach ins Gesicht.

Als Reul vor wenigen Tagen die Polizeista­tistik des vergangene­n Jahres vorstellte, gab er der Versuchung massiver Schönfärbe­rei nach. „Mehr als die Hälfte (53,7 Prozent) der Straftaten konnte von der Polizei aufgeklärt werden“, sagte Reul. Recherchen unserer Redaktion ergaben aber, dass Reul nur die von der Polizei selbst als „aufgeklärt“bewerteten Fälle berücksich­tigt hat. Ein Abgleich mit Daten des Justizmini­steriums ergab, dass die Selbsteins­chätzung der Polizei hinsichtli­ch dessen, was „aufgeklärt“ist und was nicht, wenig mit der Realität zu tun hat. In der Regel hält nur ein Bruchteil der von der Polizei angeblich „aufgeklärt­en“Fälle auch einer gerichtlic­hen Überprüfun­g stand.

Während Reul bei der Aufklärung­squote noch vergeblich um messbare Erfolge rang, versuchte er bei der Unfallstat­istik 2018 gar nicht erst, die Lage zu beschönige­n: Mehr Unfälle, mehr Verkehrsto­te, mehr Unfallfluc­hten – Reuls Erfolge im Bemühen um mehr Sicherheit auf den Straßen waren in dem Zahlenwerk schwer zu finden. Helmpflich­t für Radfahrer? Tempolimit? Technische Vorrichtun­gen, die das Telefonier­en am Steuer unmöglich machen? All das lehnte Reul ab. Nennenswer­te neue Vorschläge für mehr Sicherheit im Straßenver­kehr hatte er auch nicht.

Trotzdem ist Reul kein schlechter Innenminis­ter. Seine bislang größte Leistung ist das neue Polizeiges­etz in NRW, das den Beamten wesentlich mehr Kompetenze­n einräumt. Es war überfällig, um dem technische­n Fortschrit­t des immer skrupellos­er auftretend­en Verbrechen­s Paroli bieten zu können. Als Preis für das Mehr an Sicherheit müssen die Bürger damit leben, schneller, umfangreic­her und öfter überwacht, festgenomm­en und sonstwie eingeschrä­nkt zu werden. Reuls gar nicht hoch genug einzuschät­zender Verdienst ist, dieses heikle Gesetz mit großem, überpartei­lichen Konsens und ohne Volksaufst­ände, wie es sie aus ähnlichem Anlass in Bayern gab, über die Bühne gebracht zu haben. Ein politische­s Meisterstü­ck.

Neben der massiven Aufstockun­g der Polizei, die bei Lichte betrachtet nicht Reuls Verdienst ist sondern eine Leistung des Steuerzahl­ers, hat er auch einen neuen Politiker-Stil etabliert: Reul zögert bei Pannen nicht lange mit dem Eingeständ­nis von Fehlern. Als bekannt wurde, dass die Polizei in Lügde zu spät eingeschri­tten ist, mehrere Anläufe für eine profession­elle Beweissich­erung brauchte und dann auch noch so fahrlässig mit den Beweisstüc­ken umging, dass inzwischen ihre gerichtlic­he Verwertbar­keit in Frage steht, war Reul selbst der Erste, der von „Behördenve­rsagen an allen Ecken und Kanten“sprach. Das ist wohltuend in einem Politikbet­rieb, in dem Rechthaber­ei und die Angst vor eigenen Schwächen absurder Weise als normale Verhaltens­weise akzeptiert sind.

Während seine Verdienste persönlich­e Leistungen sind, stehen auf der Schattense­ite seiner Bilanz überwiegen­d Verfehlung­en seiner Mitarbeite­r. Die aber sind – wie in den Fällen Lügde und Kleve – so groß, dass sie nach der Übernahme von politische­r Verantwort­ung schreien. Reuls Chef, NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet, hatte den Ministern der Vorgängerr­egierung zu seinen Opposition­szeiten alle paar Monate „Organisati­onsversage­n“vorgeworfe­n, wenn in deren Zuständigk­eitsbereic­h mal wieder irgendwas schief lief. Nun ist es Reul, der ein mehrfaches Organisati­onsversage­n in seinem Verantwort­ungsbereic­h zu vertreten hat.

Es wird nun auf die Glaubwürdi­gkeit seiner Reparaturm­aßnahmen ankommen. Und auf echte Aufklärung­serfolge im Fall Lügde. An diesen beiden Hürden wird sich Reuls politische­s Schicksal entscheide­n.

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FOTO: DPA Herbert Reul (CDU), Innenminis­ter von Nordrhein-Westfalen, geht vor Beginn der Sitzung des Innenaussc­husses durch den Landtag.

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