Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Die erschöpfte Politik
Politiker verzichten auf Pausen und Privatleben. Ihr Lohn ist die Macht, der Preis oft ihre Gesundheit. Neues entsteht durch Langeweile. Die hat nur keiner mehr. Das sollte sich ändern, damit auch Macht nicht krank macht.
Ohne diese gnadenlose Unbarmherzigkeit gegen sich selbst geht es nicht. Wer Spitzenpolitiker werden und ganz oben bleiben will, darf keine Rücksicht auf sich nehmen. Bloß nichts verpassen oder Strippen aus der Hand geben, nur keine Schwäche zeigen. Bisher jedenfalls.
Heide Simonis hat 2002 über ihre Brustkrebserkrankung und die Operation an einem Samstag geschwiegen, am Montag mit dem Tropf unter dem Arm ihre Arbeit als schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin erledigt und ist nachts zurück ins Krankenhaus gefahren. Die anschließende jahrelange kräftezehrende Strahlen- sowie Hormontherapie hat die Sozialdemokratin von der Öffentlichkeit unbemerkt überstanden. Gescheitert ist sie nur an einem (nie bekannt gewordenen) Abgeordneten, der ihr bei der geplanten Wiederwahl zur Regierungschefin 2005 überraschend die Stimme entzog und die dünne Mehrheit damit kippte.
Dankbarkeit ist in der Politik keine Kategorie. 2011 ließ sich Angela Merkel an einem Donnerstagabend am Knie operieren und eröffnete am Sonntag die Hannover-Messe. Auf Krücken. Hätte die Kanzlerin die nicht gebraucht, hätte überhaupt niemand etwas von ihrem Meniskusriss erfahren. 2017 unterdrückte Minister Peter Altmaier tagelang höllische Zahnschmerzen mit hoch dosierten Medikamenten, weil er dem Wahlkampf einen höheren Rang als seinen Schmerzen einräumte.
Als dürften Politiker nicht wie andere Menschen auch einmal krank werden, als wäre Krebs ein Makel, eine Knie-OP vermeidbar und Zahnschmerzen nicht schlimm genug, um ruhigen Gewissens die berechtigte und dringend nötige Auszeit zu nehmen. Stattdessen schleppen sich Parlamentarier und Regierende durch den Tag. Das Problem: Ihr Tag endet nicht. Termine, Gespräche, Verhandlungen, Endlosdebatten, Streit, Kompromisse, Entscheidungen, Interviews, Abendveranstaltungen, Nachtsitzungen, Auftritte am Samstag, Treffen mit Ehrenamtlichen am Sonntag. Das Handy immer am Leib oder auf dem Nachttisch. Auch an Feiertagen und im Urlaub. Im digitalen Zeitalter immer und überall erreichbar. Sie müssen in der Lage sein, von jetzt auf gleich gehaltvoll in ein Mikrofon zu sprechen. Ein Leben ohne Pausen. Privates, Familie werden hintangestellt. Die Erfahrung, wichtig zu sein, treibt sie an, ein hoher Adrenalinspiegel kompensiert schlaflose Nächte. Wenn dann aber wirklich mal nichts ist, kann der Körper zusammenfallen.
Es gibt nicht viele Menschen, die das über Jahre aushalten. Sie müssen diese Arbeit nicht nur unbedingt machen wollen, sie brauchen dafür auch eine außergewöhnlich starke physische und psychische Konstitution. Legendär der CDU-Parteitag 1989 in Bremen, als Helmut Kohl trotz wahnsinniger Schmerzen eine Prostata-Operation hinauszögerte, weil er einen Putschversuch seines Generalsekretärs Heiner Geißler vermutete. Kohl behielt die Oberhand und kam nach dem Kongress mit Blaulicht in die Klinik.
In Relation zum Durchschnittseinkommen in Deutschland verdienen Politiker viel Geld, in Relation zu Managern mit vergleichbarer Verantwortung wenig. Das Jahresgehalt der Bundeskanzlerin mit einer Verantwortung für 80 Millionen Menschen liegt geschätzt bei rund 350.000 Euro. Ein Dax-Vorstandschef hatte 2018 durchschnittlich 7,4 Millionen Euro. Es geht nicht darum, Politiker zu bedauern. Keiner wird gezwungen, diese wichtige Arbeit zu machen. Aber so viele Menschen reißen sich nicht darum, das Volk zu vertreten, mal besser, mal schlechter, aber ganz überwiegend mit Engagement und Herzblut. Selbst wenn man krank ist, so wie derzeit die CDU-Politiker Jörg Kastendiek und Mike Mohring, die beide Krebs haben und trotzdem unermüdlich
„Wir müssen menschlicher miteinander umgehen“
Sahra Wagenknecht Linksfraktionschefin