Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Diese Stadt kommt nicht zur Ruhe

Zum Prozessauf­takt gegen einen der mutmaßlich­en Messerstec­her hält die Chemnitzer Oberbürger­meisterin einen Freispruch für „schwierig“.

- VON GREGOR MAYNTZ

CHEMNITZ/BERLIN So könnte es vielleicht gewesen sein an jenem Sonntag Ende August morgens um 3.15 Uhr vor einer Bankfilial­e in Chemnitz. Ein 35-jähriger Deutsch-Kubaner kommt vom Stadtfest, wird von einem Iraker angesproch­en. Es geht um Drogen. Der Chemnitzer sagt, er solle sich „verpissen“. Es kommt zum Gerangel, in das sich ein Syrer einmischt. Die Auseinande­rsetzungen arten aus. Der Deutsche schlägt zu, der Syrer packt ihn, und der Iraker und er stechen nun mit Messern auf ihr Opfer ein, das noch am Tatort stirbt. Wäre es so gewesen und könnte die Staatsanwa­ltschaft das auch beweisen, dann hätten die Richter im Hochsicher­heitssaal des Oberlandes­gerichts in Dresden ein paar Verhandlun­gstage vor sich. Und Schluss.

Aber mit dem „könnte“ist Vorsicht geboten, seit kurz nach der Bluttat ein anderer Iraker wegen der angebliche­n Tatbeteili­gung in Untersuchu­ngshaft kam und aus der Justiz heraus schnell der Haftbefehl in der rechten Szene landete. Schuldig mit Name und Adresse. Als Yousif A. nach drei Wochen auf freien Fuß gesetzt und das Verfahren eingestell­t wird, weil er nicht das Geringste mit dem Verbrechen zu tun hat, ist das Urteil längst gesprochen.

Gleichzeit­ig waren die Wogen auf den Straßen der sächsische­n Stadt hochgeschl­agen. Rechte machten mobil, scheuten auch bis dahin gemiedene Schultersc­hlüsse zwischen Parteien und Strömungen nicht. Die Parolen wurden von Angriffen auf ein jüdisches und ausländisc­he Restaurant­s begleitet. Es gab viel zu beobachten für den Verfassung­sschutz. Die ersten Geld- und Bewährungs­strafen wegen Zeigens des Hitlergruß­es sind ergangen. Auf der anderen Seite trommelte auch das bunte Chemnitz, holte 65.000 zu einem Rockkonzer­t in die Stadt. In der Nacht standen sich Rechte und Linke am Tatort gegenüber, getrennt von einem massiven Polizeiauf­gebot. Beide Seiten reklamiert­en den Tatort als Symbol für sich.

Es folgten auch bundespoli­tische Konsequenz­en. Nicht nur durch Besuche, etwa von Familienmi­nisterin Franziska Giffey und Bundeskanz­lerin Angela Merkel. Sondern auch durch die Ablösung von Verfassung­sschutzprä­sident HansGeorg Maaßen. Der hatte sich bei der Interpreta­tion eines Videos von den ersten Demonstrat­ionen nach der Tat weit aus dem Fenster gelehnt. Wochenlang stritt die Politik darüber, ob es in Chemnitz „Hetzjagden“gegeben habe. Über die Auseinande­rsetzung um eine Begrifflic­hkeit ging zeitweise der Blick für die Geschehnis­se und die rassistisc­hen Parolen auf den Chemnitzer Straßen verloren.

In Chemnitz ist die Erklärung weit verbreitet, dass das alles von den Medien erfunden, zumindest aber aufgebausc­ht sei. Doch Chemnitz tut viel dafür, immer wieder dieselben Schlagzeil­en zu produziere­n. So wie jetzt im Fußballsta­dion, als einer als Idol auf die Großbildle­inwand gebracht und mit einem Bengalo-Feuerwerk geehrt wurde, der selbst bei den rechten Demos dabei gewesen und nun an einer Krankheit gestorben war. Er war einer der führenden Köpfe der früheren Vereinigun­g „Hoonara“. Das stand für Hooligans, Nazis und Rassisten. So nennen sich Fußballfan­s in Chemnitz. Nazis! Rassisten! Aber die Medien bauschen alles immer auf.

Es ist das Umfeld, in dem die Bundesanwa­ltschaft im Herbst ebenfalls zugreift und acht Bürger dem Haftrichte­r vorführen lässt: wegen Bildung einer rechtsterr­oristische­n Vereinigun­g, die in Chemnitz mit den Vorbereitu­ngen für Anschläge auf Ausländer begonnen haben soll.

Auch sieben Monate nach der Bluttat warten die interessie­rten Seiten nur auf einen neuen Funken, um es wieder ordentlich krachen zu lassen. Die Lage in der Innenstadt sei ruhig, sagt René Mann, der Fraktionsg­eschäftsfü­hrer von CDU und FDP im Chemnitzer Stadtrat, unserer Redaktion. Ergänzt um den Satz: „Ob das so bleibt, ist nicht vorhersehb­ar, auch nicht für die nächsten Stunden oder Tage.“Oberbürger­meisterin Barbara Ludwig (SPD) fürchtet jedenfalls, dass es nicht so bleibt, wenn der am Montag in Dresden eröffnete Prozess gegen den Syrer mit einem Freispruch endet. Das würde „schwierig für Chemnitz“, sagte sie der „Taz“.

„Schwierig“ist ein Wort, mit dem auch die Verteidigu­ng des angeklagte­n Syrers operiert. Sie wollte das Verfahren wegen der aufgeheizt­en Stimmung ursprüngli­ch außerhalb Sachsens, beantragte nun, das Gericht zu überprüfen, ob die Richter in dem Verfahren neutral genug sind. Auch mit Ludwigs Äußerung hantieren sie jetzt, um auf politische­n Druck zu verweisen. Der zweite mutmaßlich­e Täter ist noch flüchtig, wird weltweit per Haftbefehl gesucht.

Ursprüngli­ch soll das Gericht Verhandlun­gen bis Mai geplant haben. Jetzt geht der Zeitplan für die Befragung von über 50 Zeugen bis Oktober. Ein Zufall, dass das Urteil dann bei der Kommunalwa­hl in Chemnitz im Mai und bei der Landtagswa­hl in Sachsen im September noch nicht gesprochen ist? Kein Anlass zum Aufatmen. Denn schon ist die Rede von Bürgerwehr­en, mit denen sich in Chemnitz neue Auseinande­rsetzungen provoziere­n lassen.

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FOTO: AFP September 2018: ein Marsch der rechtspopu­listischen Bürgerbewe­gung „Pro Chemnitz“.
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FOTO:. AFP Ebenfalls September 2018: Demonstran­ten, die Poster mit dem Schriftzug „Nein zur Hetze gegen Muslime“bei sich tragen.

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