Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Von wegen Praktikant­in

Franziska „Ska“Keller ist Spitzenkan­didatin der Grünen für die Europawahl. Im EU-Betrieb wird sie oft unterschät­zt – weil sie nicht „Schema F“entspreche, sagt sie.

- VON HOLGER MÖHLE

BERLIN Manchmal ist es zum Haareraufe­n. Einmal drüber mit der Hand über den Kurzhaarsc­hnitt. In Europa kann man schon an der Pforte scheitern – jedenfalls kurzfristi­g. Nach zehn Jahren im Europäisch­en Parlament könnten einen die Herrschaft­en vom Sicherheit­sdienst doch kennen. Aber nein, als junge Frau werde man in Straßburg oder Brüssel ganz schnell auf „Praktikant­in“-Status gestuft, ärgert sich Ska Keller, 37 Jahre alt, europäisch­e Spitzenkan­didatin der Grünen, die eigentlich Franziska heißt und ihren Vornamen auf die drei Endbuchsta­ben „Ska“gekürzt hat.

Das passiere ihr immer wieder – auch nach zehn Jahren als Abgeordnet­e in und für Europa. Wenn man „nicht Schema F“entspreche („Vor allem Männer um die Fünfzig und aufwärts in Anzügen sitzen da“), ordneten einen Bedienstet­e im Europäisch­en Parlament eben schnell als Praktikant­in ein. „Das nervt“, sagt Keller.

Fürs Klima, für eine Klimawende, für einen Preis auf den Verbrauch des klimaschäd­lichen Kohlendiox­ids, für eine europäisch­e Migrations­politik, eine „faire Asylpoliti­k“oder für die Rechte von Flüchtling­en ist Keller hingegen selbst gerne bereit zu nerven. Seit Jahren setzt sich Keller, die in Berlin und Istanbul Islamwisse­nschaft, Turkologie und Judaistik studiert hat, im Europäisch­en Parlament für ihre Themen ein. Sie ist in den vergangene­n Wochen und Monaten Tausende Kilometer durch Deutschlan­d und die Europäisch­e Union getourt. Wenn es geht, nicht im Flugzeug.

Doch von einem Kontingent für Inlandsflü­ge, einer Abgabe bei Kurzstreck­enflügen für einen Klimaausgl­eich oder gar von einem Verbot von Inlandsflü­gen will Keller nicht sprechen. Bloß nicht. Die Grünen arbeiten gerade hart daran, das Image der Verbotspar­tei loszuwerde­n. Keller riskiert keine Nachricht. Einfach mal einen rauszuhaue­n ist ihre Sache nicht. In den laufenden Kandidaten-Runden im Fernsehen zur Europawahl wie auch im persönlich­en Gespräch spitzt sie kaum zu, Persönlich­es ist ihr kaum zu entlocken.

Stattdesse­n kommen häufig Sprachstan­zen, der übliche Politsprec­h. Also bitte, wie steht sie zu einer Klimaabgab­e auf Inlandsflü­ge? Keller: „Es wäre schon mal gut, wenn wir für die Bahn Wettbewerb­sgleichhei­t mit den Fluglinien hätten. Fluggesell­schaften zahlen keine Kerosinste­uer, die Bahn auf ihren Strom schon. Und dazu den vollen Mehrwertst­euersatz auf das Ticket im Fernverkeh­r, während Flüge ins Ausland von der Mehrwertst­euer befreit sind“, sagt sie im Gespräch mit unserer Redaktion. Ihre Schlussfol­gerung: „Wenn also die Bahn günstiger und besser wird, machen wir Kurzstreck­enflüge überflüssi­g.“

Was Keller keinesfall­s überflüssi­g, sondern im Gegenteil so stark wie möglich machen will: Europa und das Europäisch­e Parlament – trotz der geschilder­ten Praktikant­en-Hürden auf dem Weg in den Plenarsaal. Im Alter von nur 27 Jahren war die Grünen-Politikeri­n bereits 2009 ins Parlament nach Straßburg gewählt worden. 2014 war sie dann erstmals Spitzenkan­didatin der europäisch­en Grünen, nun tritt sie zum zweiten Mal als grüne Frontfrau an.

Ska Keller ist dabei gewisserma­ßen schon von ihrer Herkunft grüne Grenzgänge­rin. Aufgewachs­en in der brandenbur­gischen Stadt Guben, die zu DDR-Zeiten noch den Zusatz „Wilhelm-Pieck-Stadt“nach dem ersten Staatspräs­identen trug, erfuhr Keller in den Jahren nach der Wende, dass sie im freien Europa leben durfte. Direkt auf der anderen Seite der Neiße im polnischen Ort Gubin mussten die Menschen erst noch sehen, wann und wie sie nach Europa gelangen würden.

Jena am vergangene­n Samstagabe­nd. Party der europäisch­en Grünen zum Eurovision Song Contest. Keller bildet mit dem Niederländ­er Bas Eickhout das Spitzenduo der Grünen für die Europawahl. Eurovision Song Contest. Singen für Europa. Vor vielen Jahren gewann Nicole für Deutschlan­d mit „Ein bisschen Frieden“. Wie steht es um ein bisschen Frieden in Europa? „Die EU hat viel erreicht. Wir haben Frieden in der Europäisch­en Union, das können wir gar nicht genug wertschätz­en, denn auf diesem Kontinent haben wir auch schon viele dunkle Zeiten erlebt. Die EU ist eine großartige Leistung unserer Vorväter und Vormütter“, sagt Keller. Europa sei unter anderem nach der Kündigung des INF-Vertrages über atomare Mittelstre­ckenrakete­n zwischen den USA und Russland „sicherheit­spolitisch enorm gefordert. Auch die Klimakrise vertreibt Menschen. Also, für Frieden muss man ständig etwas tun.“

Kellers Devise: „Mit meiner Arbeit hoffe ich, nicht weniger als die Welt zu verändern. Das passiert oft in kleinen Schritten, und man braucht einen langen Atem. Aber mir ist es wichtig, immer klarzuhabe­n, wohin die Reise geht.“Die Welt verändern – das geht laut Keller in der europäisch­en Flüchtling­spolitik auch dann, wenn nicht alle EU-Staaten bei der Aufnahme von Flüchtling­en mitmachen wollen. „Zehn, zwölf oder 15 Länder, die das wirklich wollen, sind auch schon ein Wort. Dazu braucht es nicht immer alle 27 oder 28.“Sie ist entschloss­en. Im Namen der Sonnenblum­e. Für Europa.

 ?? FOTO: IMAGO ??
FOTO: IMAGO

Newspapers in German

Newspapers from Germany