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„Corona macht uns alle zu Alleinstehenden“
Kontaktverbot, Homeoffice, weder Schule noch Sport – das Leben spielt sich fast nur noch zu Hause ab. Ein Gespräch über Lagerkoller.
KÖLN Auf einmal sind alle immer zu Hause – der Partner, die Kinder und sogar das Büro. Wie kann man mit der Dauernähe am besten umgehen? Und wie schaffen Alleinlebende es, nicht in die Isolation abzurutschen, wenn sie noch nicht mal mehr die Kollegen sehen? Gerd Höhner ist Diplom-Psychologe, Psychotherapeut und Präsident der Psychotherapeutenkammer in NRW.
Herr Höhner, was sehen Sie gerade als größte Herausforderung?
HÖHNER Sowohl auf politischer als auch auf individueller Ebene ist die größte Aufgabe der Umgang mit einer Situation, für die es kurzfristig keine Lösung gibt. Wir alle müssen Wochen, vielleicht Monate so leben. Wir erleben einen Kontrollverlust, das empfinden wir als bedrohlich.
Und was können wir tun?
HÖHNER Mit Tipps wie „Nutze die Zeit und lies ein gutes Buch“kommen wir nicht weit. Wir kennen es, dass wir im Alltag mal Kontrolle und Übersicht verlieren und überfordert sind. Wir haben dafür in der Regel Lösungsmöglichkeiten. Aber im Moment können wir gefühlt nichts tun, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen – außer Hände waschen und zu Hause bleiben. Das führt dazu, dass wir uns ausgeliefert fühlen. Eine der wichtigsten Maßnahmen, die bei uns in Deutschland zum Glück geschieht, ist offene Information und Transparenz auf der politischen Entscheidungsebene im Sinne von: Das ist die Situation, und das sind alle Rahmenbedingungen.
Die neue Situation für viele ist: Alle sind zu Hause. Wie klappt das?
HÖHNER Man muss im Umgang disziplinierter, vorsichtiger und kontrollierter sein, als man es üblicherweise muss. Problem des Lagerkollers ist: Man kann sich nicht aus dem Weg gehen. Das Ganze braucht eine Struktur, neue Routinen, feste Arbeits- und Lernzeiten. Ganz wichtig sind auch Auszeiten für alle – etwa allein einen Spaziergang machen. Selbst Paare sind es ja nicht gewohnt, den ganzen Tag zusammen zu sein. Ein wichtiger Punkt ist: Äußere Ordnung führt zu mehr innerer Ordnung – und zum Gefühl, die Kontrolle über die Situation ein wenig zurückzugewinnen. Man sollte sich einen engeren Tagesplan machen als gewohnt: Arbeiten, Kochen, Essen, Fernsehen. Je enger die Lebensräume sind, desto enger kann das auch emotional für alle Beteiligten werden.
In China hat häusliche Gewalt in der Krise stark zugenommen. HÖHNER Es entstehen Situationen, die sehr belastend sind für Menschen. Und manche reagieren mit Destruktion und Aggression darauf. Das ist natürlich keine gute Reaktion, aber psychologisch eine naheliegende. Man schlägt drauf, um irgendwas zu tun. Der vereinfachte Blick ist: Ich schlag auf diejenigen ein, die mich nerven. Der häusliche Stress wird zunehmen – und dadurch auch die Gewalt, das sehe ich leider auch für Deutschland so kommen. Die Situation, immer zusammen zu sein, kennen wir ja sonst nur aus dem Urlaub. Psychotherapeuten melden eine ungebrochene Nachfrage, trotz der Probleme bei persönlichen Kontakten.
Was können Alleinlebende im Homeoffice gegen die Isolation tun?
HÖHNER Ich glaube, wir werden in den nächsten Wochen und Monaten alle neue Arbeitsformen entwickeln. Wie machen jetzt Telefonund
Videokonferenzen, wo wir noch vor zwei Monaten gesagt hätten: Dazu müssen wir zusammenkommen. Man kann im Homeoffice aktiv den Kontakt suchen – telefonieren, skypen, Mails schreiben. Das Risiko, in die Depression zu rutschen, wird sicherlich nicht durch Homeoffice verursacht. Die Situation macht uns gerade alle zu Alleinstehenden, weil wir sie bisher nicht kannten. Das menschliche Bedürfnis nach Kommunikation, nach Gemeinsamkeit ist aber überlebensnotwendig – und führt etwa dazu, jetzt gemeinsam zu singen auf dem Balkon.
Hilft es, Dinge zu tun, für die nie Zeit war, ist die Krise eine Chance?
HÖHNER Vielleicht in einigen Monaten. Für den Moment hat es aber nichts mit der Realität zu tun. Es macht keinen Sinn, sich die Situation schönzureden. Die Menschen entlastet viel mehr, wenn man ihre Sorgen und Bedenken ernst nimmt.
Aber zwingt uns der Kontrollverlust nicht in eine Opferrolle?
HÖHNER Nein, das sind wir selbst. Wir haben es in der Hand, aus der Opfer- in die Täterposition zu kommen – im Sinne von Tun und Handeln. Ich finde ganz wichtig, dass wir uns verhalten wie Erwachsene, Verantwortung für uns und andere übernehmen und nicht denken: Irgendwer wird es schon richten. Wir alle können die eigene Situation im Kleinen gestalten und beeinflussen. Das ist psychologisch sehr hilfreich.
CLAUDIA HAUSER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.