Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Massive Kritik an Geisels Corona-Vorstoß
Viele finden aber seine Forderung einer Exit-Strategie sinnvoll, darunter auch ein renommierter Mediziner.
DÜSSELDORF Die Corona-Krise hat ihren Höhepunkt noch nicht überschritten, da gibt es schon eine breite Front von Stimmen, die über die Zeit danach sprechen wollen. So verlangen in Berlin die Oppositionsparteien AfD, FDP, Linke und Grüne von der Bundesregierung ein Ausstiegsszenario. Am ausführlichsten hat sich der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) geäußert. In einem Gastbeitrag, den unsere Redaktion am Mittwoch veröffentlichte, sprach sich das Stadtoberhaupt dafür aus, inmitten der scharfen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus einmal „innezuhalten und darüber nachzudenken, ob wir wirklich auf dem richtigen Weg sind“. Geisel wies vor allem auf die massiven wirtschaftlichen und sozialen Folgen des derzeitigen Corona-Kurses hin.
Die Reaktionen sind gespalten. Der oberste deutsche Gesundheitsschützer, Bundesminister Jens Spahn (CDU), erklärte am Mittwoch, man müsse unbedingt jetzt schon an die Zukunft denken – an die Zeit „nach Corona“. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, macht sich Gedanken über die massive Einschränkung der Grundrechte. Zwar hält er die aktuellen Ausgangsbeschränkungen für „noch verfassungsgemäß“, wie er in einem Interview mit der „Initiative Gesichter der Demokratie“sagte. Aber die Politik bewege sich in einem Spannungsfeld zwischen dem Grundrecht der Freiheit der Person und dem Grundrecht auf Leben und Gesundheit. Hier gelte es die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Die wäre verletzt, wenn sich „der Staat entschließen würde, nicht regional begrenzte und vor allem auch zeitlich nicht eng limitierte totale Ausgangssperren zu verhängen“. Das hatten zuletzt einige Hardliner am Sonntag in der Konferenz von Kanzlerin und Ministerpräsidenten gefordert.
Martin Exner, der das Institut für Hygiene und öffentliche Gesundheit an der Uniklinik in Bonn leitet, stimmt dem Düsseldorfer OB teilweise zu: „Herr Geisel hat recht, wenn er sagt, es geht um den Zeitgewinn, nicht die Ausrottung des Virus. Dabei spielen die leichten Formen der Erkrankung beziehungsweise der Infektion eine große Rolle. Je mehr die Bevölkerung durch leichte Infektionen immun wird, desto eher wird es möglich sein, Maßnahmen wie Kontaktverbote oder der sozialen Distanzierung zu lockern.“
Allerdings, so der Mediziner, komme es darauf an, wie weit „die Krankenhäuser in der Lage sein werden, die schweren Corona-Fälle zu behandeln“. Exner: „Das ist wichtiger als die reinen Infektionszahlen. Entscheidend ist, dass die Kapazitäten der medizinischen und der pflegerischen Versorgung ausreichen, die schweren Fälle intensivmedizinisch oder stationär und leicht verlaufende Fälle ambulant zu behandeln.“Erst dann könnten Maßnahmen wie das Kontaktverbot oder die Schließung der Geschäfte gelockert werden. Als Zeitspanne nennt er dafür ein bis zwei Monate.
Der Leverkusener Oberbürgermeister Uwe Richrath (SPD) geht mit seinem Düsseldorfer Amtskollegen schärfer ins Gericht. „Erst wenn erkennbar wird, dass sich die medizinische Lage stabilisiert und deutlich entspannt, können notwendige Entscheidungen in Bezug auf das Wiederaufleben des öffentlichen Lebens getroffen werden.“
Völlig anders als Geisel sieht es der Kölner Ordnungsdezernent Stephan Keller (CDU), Geisels Gegenkandidat bei der Kommunalwahl. Es sei ein „falsches Signal, die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Krise infrage zu stellen und den Eindruck zu erwecken, als wären sie nicht erforderlich“. Das Gegenteil sei der Fall. Keller: „Die jetzigen Maßnahmen sind absolut notwendig, um die Risikogruppen zu schützen und unsere Krankenhäuser nicht zu überfordern.“Er fühle sich im Einklang nicht nur mit Kanzlerin und Ministerpräsidenten, „sondern auch so gut wie allen Verantwortlichen in den Städten und Gemeinden“.
Die liberale Spitzenpolitikerin Agnes Strack-Zimmermann, die für Düsseldorf im Bundestag sitzt und ebenfalls Geisel nachfolgen will, greift diesen direkt an. „Wie soll man von den Bürgerinnen und Bürgern Disziplin verlangen, wenn das Stadtoberhaupt eine Pandemie, wie wir sie zu unseren Lebzeiten noch nie erlebt haben, relativiert.“Geisel schlage eine „Durchseuchungsstrategie“vor, die viele Menschenleben kosten würde, sagte sie unserer Redaktion.