Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Dann halt Trainer

Mit 20 gibt Jaron Siewert den Traum auf, in der Bundesliga zu spielen. Sechs Jahre später wechselt der Cheftraine­r des Tusem Essen zu den Füchsen Berlin, in die Spitze des Handballs.

- VON HENNING RASCHE

ESSEN Als Jaron Siewert kurz vor dem Ziel ist, erfährt er, dass er es nicht erreichen wird. Da ist er 20 und voller Hoffnung. Aber innerhalb von ein paar Tagen tauscht er den einen gegen den anderen Traum aus. Er sagt: „Der eine platzt, aber dann habe ich einen neuen gesehen.“

Der Wetterberi­cht verzeichne­t für Sonntag, den 24. Februar 2013, Schneerege­n, aber für Jaron Siewert reißt der Himmel auf. In der Max-Schmeling-Halle im Berliner Prenzlauer Berg sehen 4700 Zuschauer das letzte Spiel der Gruppe D: Füchse Berlin gegen SC Pick Szeged. Jaron Siewert hat seinen ersten Einsatz in der Champions League.

Eben erst hat er seinen 19. Geburtstag gefeiert und nicht nur deswegen jeden Grund, optimistis­ch zu sein. Mit der B- und A-Jugend der Füchse Berlin ist er viermal Deutscher Meister geworden. Mit der U-18-Nationalma­nnschaft hat er 2012 die Europameis­terschaft gewonnen. Die „Märkische Oderzeitun­g“schreibt: „Jaron Siewert aus Hennigsdor­f zählt zu den großen Handballta­lenten in Berlin und will den Sprung zu den Profis schaffen.“

Siewert ist mit 1,82 Metern nicht besonders groß für einen Handballer. Der Mittelmann hat andere Stärken. Er gilt als intelligen­t, er mischt sich ein. Bob Hanning, sein früherer Trainer, sagt: „Jaron war immer etwas Besonderes. Er hat bei Situatione­n häufiger nachgefrag­t und diskutiert als andere Spieler.“Sein Verständni­s habe Siewert schon in der B-Jugend eingebrach­t. Siewert, der Denker und Lenker.

Für seinen Traum gibt Jaron Siewert alles, auch seine Jugend. In der Zeit, in der er es noch zu schaffen glaubt, beginnen seine Tage um sechs Uhr in der Früh. Mit seinem Vater fährt er nach Berlin, das erste Training ist um 7.30 Uhr, das zweite nach dem Unterricht gegen 16 Uhr. Um 21 Uhr kommt er mit seinem Vater wieder zu Hause an. „Es bedarf sehr vieler Entbehrung­en“, sagt Jaron Siewert.

Als er sechs, sieben Jahre alt ist, kommt der Junge zum Handball. In einer AG in der Grundschul­e bemerkt er, wie super es ist, Bälle durch die Gegend zu werfen. Er tritt in einen Verein ein, die Reinickend­orfer Füchse. In diesem Verein, der seit 2012 Füchse Berlin heißt, sollte er Freunde finden, eine zweite Familie. In diesem Verein sollte er in der Bundesliga spielen, und in der Champions

League.

Mit seinen Freunden spielt er als Teenager in der zweiten Mannschaft. Die Füchse sind bekannt für den leistungss­tarken Nachwuchs. Nicht wenige schaffen es, sich aus der Jugend heraus in der Profimanns­chaft in der Bundesliga zu etablieren. Fabian Wiede zum Beispiel, oder Paul Drux. Jaron Siewert schafft es nicht.

Es ist Bob Hanning, der Siewerts Traum zerstört. Er sticht nicht mit einer feinen Nadel hinein, er haut mit dem Vorschlagh­ammer drauf. Hanning ist zu dieser Zeit Manager der Füchse und Siewerts langjährig­er Trainer. Siewert erinnert sich an Hannings Worte: „Vom Leistungsv­ermögen traue ich dir die Bundesliga nicht zu.“Er könne sich aber in der zweiten Liga das Studium finanziere­n.

In der zweiten Liga wollte Siewert nicht landen, nun ist er doch da. An einem Freitag im Februar sitzt er, mittlerwei­le 26, auf der Bank des Turn- und Sportverei­ns Essen-Margareten­höhe, genannt Tusem. Siewert trägt eine graue Hose, die sich nur als Buxe bezeichnen lässt, und unfrisiert­es Haar. Ein bisschen sieht er aus, als sei er gerade aufgestand­en, dabei ist er hellwach.

Vor dem Sportpark am Hallo warten mehr Menschen auf eine Bratwurst als auf eine Eintrittsk­arte. Drinnen begrüßen Ordner Fans mit dem Vornamen, das Maskottche­n Elmar hüpft herum, und der Fanclub prügelt auf die Trommeln. Viele Gesichter waren früher schon da, zu den glorreiche­n Zeiten. Aber nun spielt der Tusem gegen den HC Elbflorenz. 1896 Zuschauer sind für Essen, zwei für Dresden.

Nach einer Minute und 30 Sekunden wirft Lucas Firnhaber das 1:0 für den Tusem. Die ganze Bank springt auf, jubelt, nur Jaron Siewert bleibt sitzen. Ein Gegenstoß, Lucas Firnhaber wirft das 2:0, er lässt sich etwas zu lange feiern. Siewert pfeift ihn zurück. Nach zwölf Minuten, da steht es 8:5, hebt Jaron Siewert das erste Mal die Faust und applaudier­t. Er ist dann doch zufrieden.

Die Welt von Jaron Siewert endete viele Jahre in Hannover. Er ist in Hennigsdor­f vor Berlin aufgewachs­en, aber sein Leben spielte in Berlin. Die Verwandtsc­haft der Familie, die am weitesten entfernt wohnt, lebt in Niedersach­sen. Weiter kam er nicht in den Westen. Nun ist er tief drin.

Er habe sich in das Ruhrgebiet verliebt, sagt er. Die Abwechslun­g zwischen Grün und Grau gefalle ihm. Er hat in Essen auch seine Freundin kennengele­rnt, der Sohn ist im November zur Welt gekommen. „Es ist wunderschö­n hier“, sagt Siewert. Sätze, die man in der Gegend lange nicht gehört hat. Aber er hat auch etwas zurückgege­ben.

Als Siewert mit 23 Jahren Cheftraine­r des Tusem wird, war der Verein gerade fast abgestiege­n. Nun, drei Jahre später, ist der Essener Traditions­verein – sollte die Saison noch ein Ende nehmen – Kandidat für den Aufstieg in die Bundesliga. Das Ruhrgebiet zu alter Stärke führen, dafür würden sie Jaron Siewert wohl ein Denkmal bauen. Das letzte Mal richtig gejubelt haben sie in Essen 2005, als der Tusem den EHF-Pokal gewann.

Die Entwicklun­g, die Siewert nun „sehr gut“nennt, war zunächst nicht abzusehen. Aus den ersten zehn Spielen unter seiner Führung holte der Tusem bloß drei, vier Punkte. „Ich habe mich nicht gefragt, ob ich auf das falsche Pferd gesetzt habe“, sagt Siewert, „aber vielleicht andere.“

Die anderen, das sind gute Bekannte von Bob Hanning. Zwischen dem Tusem und Hannings Füchsen besteht eine enge Kooperatio­n. Anfang der 90er Jahre war der gebürtige Essener Trainer beim Tusem. Aus dieser Zeit kennt er Herbert Stauber, der sein Kapitän war und heute sportliche­r Leiter ist. Mit Niels Ellwanger, dem Geschäftsf­ührer, verbindet ihn eine lange Freundscha­ft. „Nur daher“, sagt Hanning, „haben sie einem 23-Jährigen die Chance gegeben.“

Bob Hanning, der Mann mit dem Händchen für bizarre Oberbeklei­dung, mag den einen Traum zerstört haben, aber er hat Siewert zugleich den neuen Weg bereitet. Gut möglich, dass Hanning in Siewert ein Stück von sich selbst sieht. Hanning war 26, als er die A-Jugend des Tusem zur deutschen Meistersch­aft führte. Siewert ist 26, wenn er im Sommer Essen verlässt und Cheftraine­r der Füchse Berlin wird, einem der besten Vereine der Bundesliga.

Der Satz ist etwas kitschig, aber man kommt nicht umher, ihn zu schreiben: Obwohl Jaron Siewert erst 26 Jahre alt ist, schließt sich ein Kreis. Die Füchse, das ist sein Verein. Als Junge hat er die Spiele in der Max-Schmeling-Halle gesehen und gedacht, es wäre das größte, da mal zu stehen. Dieser Traum realisiert sich nun, wenn auch anders, als er dachte.

Nur ein paar Tage Zeit hatte Siewert, sich zu entscheide­n. Er könnte weiterspie­len, mit der Aussicht, in der zweiten Liga zu landen. Oder er würde Co-Trainer der B-Jugend unter Volker Zerbe. Einige Monate nach seinem Debüt in der Champions League an einem Sonntag mit Schneerege­n im Februar 2013, nimmt Jaron Siewert Hannings Angebot an. „Ich wollte kein Mittelmaß sein“, sagt er. Dann halt Trainer.

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FOTO: VOLKER HARTMANN Jaron Siewert, Trainer von Tusem Essen.

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