Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Kanzlerin im Homeoffice
Überfällt auch Merkel langsam der „Lagerkoller“? Sie bedauert, dass sie „gar keinen persönlichen Kontakt hat“. Und regiert per Telefon und SMS.
BERLIN Angela Merkel sitzt in ihrer Wohnung und hängt sechs Stunden in der Schalte mit den europäischen Staats- und Regierungschefs. Ihren Kaffee trinkt sie schwarz, ab und zu schaut sie durch das Fenster in den Himmel. Die Bewegungsfreiheit der Bundeskanzlerin, die in der Welt zuhause ist, beschränkt sich auf die Meter zwischen Küche und Bad. Mag sie sich in ihrer langen politischen Karriere hin und wieder gewünscht haben, einfach mal allein zu sein, erscheint ihr diese häusliche Isolierung nun quälend lang. So in etwa kann man sich die Quarantäne vorstellen, in die sich die 65-Jährige vorigen Sonntagabend begeben hat. Begeben musste. Kurz zuvor hatte sie zur Eindämmung der Corona-Krise gravierende Ausgangsbeschränkungen für die Bevölkerung verkündet. Dann erfuhr sie, dass ein Arzt, der sie behandelt hatte, positiv auf das Virus getestet wurde. Damit musste sich auch die deutsche Regierungschefin ins Homeoffice verabschieden.
Bewohnt hat Merkel ihre Wohnung so viele Tage am Stück zuletzt nach einem Beckenbruch. Das sei die anstrengendste Zeit für die Mitarbeiter im Kanzleramt gewesen, hieß es seinerzeit. Die ruhig gestellte Frau Merkel habe plötzlich mehr Zeit und ständig neue Ideen gehabt. Damals gab es aber keine Corona-Krise, die alles auf den Kopf und die Politik auf eine harte Probe stellt. Jetzt regiert Merkel unter Hochdruck von Zuhause aus. Das macht manches schwerer. Sie hofft inständig, dass es ihr besser ergehen wird als Boris Johnson. Ihre ersten beiden Tests waren negativ, ein weiterer folgt nächste Woche. Der Test beim britischen Premierminister hingegen war positiv. Das Video, das der am Freitag von sich via Twitter verbreitete, zeigt ihn in einem grünen Ledersessel. Er sagt, er habe milde Symptome. Innerhalb von zwei Stunden wird das Video mehr als zehn Millionen Mal angesehen. Von Merkel gibt es keine solchen Bilder. Sie führt kein Quarantäne-Tagebuch, das sie auf Twitter veröffentlicht. Sie hat gar keinen eigenen Twitter-Account. Und sie klinkt sich in die Videokonferenz mit den EU-Kollegen auch nur per Telefon ein. Womöglich ist das von der Privatwohnung aus die sicherste Variante, aber vielleicht will Merkel auch einfach keinen Blick in ihr Wohnzimmer gewähren. Bilder davon gab es nie. Weder aus ihren vier Wänden im Herzen der Hauptstadt in Sichtweite des Pergamonmuseums noch aus ihrem Häuschen nahe Templin in der Uckermark.
Bei einem EU-Gipfel in Brüssel wäre Merkel wohl zum italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte gegangen und hätte im Streit um Corona-Bonds – also allgemeine Anleihen der Eurostaaten – den Spielraum für eine Lösung direkt ausgelotet. Das schwer gebeutelte Italien mit Tausenden Corona-Toten setzt mit acht anderen Staaten auf die gemeinsame Aufnahme von Schulden eben über gemeinsame Anleihen. Merkel ist strikt dagegen und bevorzugt den Eurorettungsschirm
ESM, dessen Kredite mit Bedingungen verbunden sind. In einer telefonischen Pressekonferenz zu der EU-Schalte sagt Merkel: „Man hat natürlich nicht die Möglichkeit, einfach einmal am Tisch rumzulaufen und mit einem darüber zu sprechen, ob vielleicht ein Kompromissvorschlag durchgehen würde.“Aber offensichtlich hatte sie während der Konferenz nicht nur ein Telefon, sondern auch ein Smartphone oder Tablet zur Hand. Denn sie sagt: „Auf der anderen Seite kann man sich ja auch gegenseitig einmal eine Message schreiben.“Insofern könne man über diese Distanz ganz gut arbeiten. „Auch wenn es nicht ganz so gut ist, wie wenn man persönlich miteinander zusammensitzt.“
Zum Ende ihrer Amtszeit trifft Merkel die bisher größte Krise des Landes. Seit dem Zweiten Weltkrieg habe es keine solche Herausforderung gegeben, sagt sie. Nach einer Umfrage macht das die Deutschen so pessimistisch wie kein anderes
Ereignis seit Gründung der Bundesrepublik. Aber die zuletzt in Umfragen auf 26 Prozent abgestützte Union profitiert von der Krise. Sie liegt derzeit bei 33 bis 36 Prozent – mehr als bei der letzten Bundestagswahl. Merkel bleibt auf Platz eins in der Beliebtheitsskala und will Handlungsfähigkeit auch vom Küchentisch aus unter Beweis stellen. Am Mittwoch wird sie wie immer das Bundeskabinett leiten – real oder eben telefonisch.
Ob sie wie andere Bürger im Homeoffice von einem „Lagerkoller“überfallen werde, wird sie in der Telefon-Pressekonferenz noch gefragt. Ihr fehle ein bisschen, antwortet sie, dass sie ihre Minister nicht persönlich sehe und bedauert, dass „man jetzt gar keinen persönlichen Kontakt hat“.
Die Quarantäne dürften sich ruhig dem Ende neigen. Das allerdings liegt nicht einmal in der Macht einer Kanzlerin. Darüber entscheidet nur der Corona-Test.