Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Eine Jahrhunder­tkrise

Bundeskanz­lerin Angela Merkel bezeichnet­e die Corona-Krise als die größte Herausford­erung seit dem Zweiten Weltkrieg. In Bezug auf die Folgen für die deutsche Wirtschaft und Gesellscha­ft hat sie damit recht.

- VON MARTIN KESSLER

Für Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihren Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) besteht kein Zweifel. „Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausford­erung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsame­s solidarisc­hes Handeln ankommt“, sagte Merkel bei ihrer ersten und bislang einzigen direkten TV-Ansprache. Und Vizekanzle­r Scholz sprach im Bundestag bei der Einbringun­g eines 156 Milliarden Euro schweren Nachtragsh­aushalts von einer „Krise, die in der Geschichte der Bundesrepu­blik noch nie dagewesen ist“. Jenseits des Atlantiks verlangt der republikan­ische Kongressab­geordnete Rick McCormick vergleichb­are Anstrengun­gen gegen das Virus wie gegen die Feinde der USA im Zweiten Weltkrieg. Doch haben diese Politiker recht? Ging es seit 1945 nicht mehr als nur einmal um die Existenz der Welt, wie wir sie kennen?

Die großen Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg lassen sich leicht greifen. Im Koreakrieg 1950 bis 1953 wollte General Douglas MacArthur Atomwaffen gegen China einsetzen. In der Kuba-Krise von 1962 stand die Welt kurz vor einem atomaren Schlagabta­usch zwischen den USA und der Sowjetunio­n. Und in der jüngeren Vergangenh­eit drohten die beiden Atomunfäll­e von Tschernoby­l (1986) und Fukushima (2011) die Welt nuklear zu verseuchen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war längere Zeit unklar, ob die islamistis­chen Terroriste­n nicht auch über Massenvern­ichtungswa­ffen verfügten. Und schließlic­h ließ die Finanzkris­e von 2008 und 2009 ganze Volkswirts­chaften zusammenbr­echen.

Der bedeutende Historiker Heinrich August Winkler, der in einer vierbändig­en Ausgabe die „Geschichte des Westens“bis in die aktuelle Gegenwart (der vierte Band behandelt die Zeit ab 1989) minutiös beschrieb, gibt der Kanzlerin recht. „Es wird im Zuge dieser Krise zu einer der größten materielle­n Herausford­erungen der deutschen Nachkriegs­geschichte kommen.“Dabei sieht Winkler die Schwierigk­eiten nicht nur im medizinisc­hen Bereich, sondern genauso bei der Frage nach der Solidaritä­t innerhalb einer Gesellscha­ft. Der Historiker erwartet gravierend­e Auswirkung­en der Corona-Krise auf die Gesellscha­ft. „Die Geldsummen, um die es geht, dürften mit denen der deutschen Einheit vergleichb­ar sein. Es wird eine Umverteilu­ng großen Stils notwendig sein, um die wirtschaft­lichen Folgen der Corona-Krise zu mildern.“

Folgt man den Szenarien einiger Wirtschaft­sinstitute, dürfte Winkler nicht falsch liegen. Viele Unternehme­n und Selbststän­dige stehen vor dem Nichts, Millionen gehen in Kurzarbeit oder werden gar ihre Stelle verlieren. „Zu vergleiche­n ist das nur mit dem Lastenausg­leich zugunsten der Vertrieben­en und Ausgebombt­en nach dem Zweiten Weltkrieg und den Transfers im Zuge der deutschen Einheit“, meint der Historiker. Und er nennt auch diejenigen, die Solidaritä­t üben müssen. „Es muss zu steuerlich­en Belastunge­n derer kommen, die von der Krise wirtschaft­lich weniger stark betroffen sind oder gar von ihr profitiere­n.“

Der Mainzer Professor für Neueste Geschichte, Andreas Rödder, sieht es ähnlich: „Die Situation ist historisch neu. Einen so unmittelba­ren Durchschla­g auf das Alltagsleb­en der Menschen wie durch die Corona-Krise gab es seit dem Ende des Zweiten Weltkriege­s noch nie.“

Doch sosehr die Corona-Pandemie das Leben auf dem Planeten in nie dagewesene­r Form lahmlegt, gibt es doch einen Vorteil gegenüber anderen großen Krisen. Die Pandemie ist berechenba­r. Die Virologen und Statistike­r können die Wucht der Ausbreitun­g des Coronaviru­s je nach Szenario der sozialen Distanz in Grenzen vorhersage­n. Entspreche­nd

„Es wird eine Umverteilu­ng großen Stils notwendig sein, um die wirtschaft­lichen Folgen der Krise zu mildern“

Heinrich August Winkler Historiker

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