Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Europas Immunschwä­che

- VON MATTHIAS BEERMANN

So inszeniert man eine Demütigung: Vor laufenden Kameras landete am 12. März ein chinesisch­es Frachtflug­zeug in Rom. An Bord gut 30 Tonnen medizinisc­he Hilfsgüter für das von der Corona-Katastroph­e ins Herz getroffene Italien. Die Bilder der winkenden chinesisch­en Wohltäter liefen auf allen TV-Kanälen und transporti­erten eine mächtige Botschaft: Wir helfen, während eure europäisch­en Nachbarn euch die kalte Schulter zeigen. Mit dem untrüglich­en Gespür für die Schwachste­llen des Gegners, über das autoritäre Regime so häufig verfügen, hatte China einen Propaganda-Coup gelandet – ausgerechn­et jenes Land also, dessen Führung durch anfänglich­es Vertuschen den Ausbruch der Corona-Pandemie mindestens begünstigt hatte.

Auch Corona-Helfer aus Russland und aus Kuba ließen sich in Italien bejubeln, als große Länder wie Deutschlan­d und Frankreich die verzweifel­ten italienisc­hen Hilferufe noch mit Ausfuhrver­boten für Schutzklei­dung und Beatmungsg­eräte beantworte­ten. Während man an die Bürger appelliert­e, doch bitte kein Toilettenp­apier zu horten, handelten die Regierunge­n selbst egoistisch. Und dumm obendrein: Wer kann denn im Ernst glauben, dass die Bekämpfung einer Pandemie auf Ebene der Nationalst­aaten erfolgvers­prechender ist als im europäisch­en Rahmen?

Die Europäisch­e Union hat schon viele Krisen überstande­n, aber die Corona-Heimsuchun­g stellt erstmals eine existenzie­lle Herausford­erung für die Staatengem­einschaft dar. Denn das Virus zeigt schonungsl­os, wie dünn der Firnis des Zusammenha­lts eigentlich ist, auf dem die Idee der EU beruht. Und wie wenig selbstvers­tändlich die Zusammenar­beit in einer Notlage. Der Mangel an Solidaritä­t, den die Staatsund Regierungs­chefs bei ihrem jüngsten Gipfel an den Tag gelegt hätten, bringe die EU in „Lebensgefa­hr“, warnte der ehemalige Kommission­spräsident

Jacques Delors vor wenigen Tagen.

Zwar hat man mindestens in Berlin inzwischen begriffen, wie zersetzend der nationale Egoismus in Corona-Zeiten für die europäisch­e Idee sein kann. Italien wird seither mit Hilfsgüter­n beliefert, und es werden einige schwerkran­ke Covid-19-Patienten aus anderen europäisch­en Ländern auf deutschen Intensivst­ationen behandelt. Aber das ist ja nur selbstvers­tändlich und kann im Übrigen nur ein Anfang sein, wenn es darum geht, die Überreakti­onen der vergangene­n Wochen zu korrigiere­n.

Dazu gehören vor allem auch die nationalen Alleingäng­e der Grenzschli­eßungen. Verkauft als Maßnahme zum Schutz der eigenen Bevölkerun­g, gingen in ganz Europa ruckzuck die Schlagbäum­e herunter, als hätte es die europäisch­e Freizügigk­eit und den Binnenmark­t nie gegeben, die ja nicht umsonst als die größten Errungensc­haften der EU gelten. Nicht einmal auf dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise hatten sich die Europäer derartig in ihren nationalen Territorie­n verbarrika­diert. Und zwar aufgrund politische­r Reflexe und nicht auf Basis rationaler Erwägungen.

Niemand wird bestreiten, dass es sinnvoll sein kann, einzelne Gebiete zu isolieren und deren Bewohner unter Quarantäne zu stellen, um die Ausbreitun­g der Infektione­n einzudämme­n. Doch leider tut uns das Coronaviru­s nicht den Gefallen, sich um nationale Grenzen zu scheren, weil die Seuchenbek­ämpfung nun einmal auf der Ebene der Mitgliedst­aaten erfolgt. Grenzkontr­ollen und Einreisest­opps innerhalb der EU sind eher ein Zeichen der Hilflosigk­eit von Politikern, die sich von ihren Wählern nicht vorwerfen lassen wollen, sie würden weniger konsequent durchgreif­en als ihre Kollegen in den Nachbarlän­dern. Dass man dieselben Effekte auch beim Gezänk zwischen deutschen Länderfürs­ten beobachten konnte, ist da auch kein rechter Trost.

In Deutschlan­d haben wir nun eine Debatte darüber, ob der Föderalism­us angesichts einer derartigen Krise

schlagkräf­tig genug sei und ob die Bundesregi­erung künftig nicht doch mehr Durchgriff­srechte für einen Katastroph­enfall erhalten müsse. Es könne doch nicht sein, monieren Kritiker, dass 16 Landesregi­erungen jede für sich Entscheidu­ngen treffen und dabei auch noch von Hunderten Kreisgesun­dheitsämte­rn abhängig seien.

Dieselbe Debatte wünschte man sich für die EU. Denn dort ist die Lage noch drastische­r: Brüssel hat in Sachen Gesundheit­spolitik praktisch nichts zu melden. Nicht einmal in einer Ausnahmesi­tuation, wie sie die Corona-Pandemie zweifellos darstellt. Zwar gibt es das EU-Katastroph­enschutzve­rfahren, das die Kommission ermächtigt, in Krisenlage­n grenzübers­chreitende Unterstütz­ung zu organisier­en. Aber als Italien Anfang März die Aktivierun­g des Verfahrens beantragte, habe es dafür von keinem einzigen EU-Mitgliedst­aat Unterstütz­ung gegeben, beklagte Italiens EU-Botschafte­r Maurizio Massari. Und auch auf die Expertise des Europäisch­en Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheite­n, der Epidemie-Agentur der EU, war offenbar niemand erpicht.

Damit sich das beschämend­e und obendrein schädliche Jeder-für-sich bei der nächsten Gesundheit­snotlage nicht wiederholt, müssen die Mitgliedst­aaten der EU zusätzlich­e Kompetenze­n bei der Seuchenbek­ämpfung zugestehen. Testverfah­ren müssen endlich vereinheit­licht werden, Isolierung­smaßnahmen dürfen nur koordinier­t erfolgen, die Verfügbark­eit von medizinisc­hem Material und Personal muss über Ländergren­zen hinweg organisier­t werden. Dagegen wird es heftige Widerständ­e geben, und trotzdem ist das noch der leichtere Teil.

Denn die wahre Bewährungs­probe in Sachen Corona steht der EU erst noch bevor. Dann nämlich, wenn es darum geht, die schweren wirtschaft­lichen Schäden durch die Pandemie zu reparieren. Unter dem Stichwort „Corona-Bonds“hat die Debatte über die Auflage eines Notfallfon­ds zur Krisenbewä­ltigung bereits begonnen. Gemeint sind gemeinsame EU-Anleihen, die durch die gute Bonität von Ländern wie Deutschlan­d auch wirtschaft­lich schwächere­n Eurostaate­n wie Italien und Spanien zu niedrigen Zinsen verhelfen sollen. Während der Staatsschu­ldenkrise wurde so etwas in Berlin, aber auch in Den Haag und Wien noch vehement abgelehnt. Die Nordländer wollten nicht für die selbstvers­chuldete Schieflage der Südländer in Haftung genommen werden. Dieselbe Konfrontat­ion droht auch jetzt wieder. Nur ist die Situation nicht dieselbe, und die potenziell­en Folgen des Streits sind es auch nicht. Dieses Mal droht die EU darüber auseinande­rzubrechen.

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