Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Kinder betreuen ohne Abstand

Bundesweit sind etwa 3,7 Prozent der Kita-Kinder in Notgruppen. Gewerkscha­fter fordern mehr Infektions­schutz für Erzieher.

- VON LAURA ENGELS

DÜSSELDORF Sie wechseln Windeln, putzen Nasen und werden angehustet. Erzieher sind dem Coronaviru­s relativ schutzlos ausgeliefe­rt, da sie aufgrund ihrer Arbeit mit Kleinkinde­rn keinen Sicherheit­sabstand von anderthalb bis zwei Metern einhalten können. Viele Bundesländ­er haben den Anspruch auf Notbetreuu­ng in der vergangene­n Woche trotzdem erweitert. Außer in Nordrhein-Westfalen muss unter anderem auch in Bayern oder Berlin nur noch ein Elternteil in einem systemrele­vanten Beruf tätig sein. Pädagogen befürchten dadurch größere Gruppen und eine höhere Ansteckung­sgefahr, die Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW ) fordert einen ganzen Maßnahmenk­atalog, um das Infektions­risiko zu senken.

Doch ein Blick auf die Zahlen zeigt: Bisher bleibt der befürchtet­e Ansturm aus. Bundesweit liegt die Quote der Kinder in der Notbetreuu­ng in den Kindertage­seinrichtu­ngen und der Kindertage­spflege im Schnitt bei etwa 3,7 Prozent. Das hat eine Umfrage unserer Redaktion unter den zuständige­n Landesmini­sterien ergeben. Lediglich in Baden-Württember­g und Bremen werden derlei Daten nicht erhoben. Nordrhein-Westfalen liegt mit 3,4 Prozent (2,45 Prozent in den Kitas und 4,4 Prozent in der Tagespfleg­e; Stand: 31. März 2020) knapp unter dem Durchschni­tt. Die Notfallbet­reuung liegt in der Zuständigk­eit der Länder. Zudem sind die Angaben täglichen kleinen Schwankung­en unterlegen, da nicht alle Eltern jeden Tag die Notbetreuu­ng in Anspruch nehmen. Die Regelungen und Ausweitung­en seien mit Blick auf die Situation im jeweiligen Land getroffen worden, teilte eine Sprecherin des Bundesfami­lienminist­eriums mit. Bund und Länder seien jedoch kontinuier­lich im Austausch. Nach der teilweisen Lockerung sei der Bedarf den betroffene­n Ländern zufolge moderat gestiegen, jedoch nicht signifikan­t.

Auch der Bundesverb­and der freien unabhängig­en Kitaträger hält die Ausweitung­en für akzeptabel. „Wie immer gibt es auch hier Eltern, die das ausnutzen und sich großzügig als Beschäftig­te zur Erhaltung der kritischen Infrastruk­tur definieren“, sagt die Bundesvors­itzende Waltraud Weegmann. In solchen Fällen sei es für Kitaträger wichtig, sich klar zu positionie­ren. Einer „vorsichtig­en ersten Einschätzu­ng“nach, habe die Ausweitung auch laut GEW nicht dazu geführt, dass die Einrichtun­gen in Deutschlan­d überrannt worden seien. „Es ist zwar spürbar, aber die Zahlen haben sich nicht vervielfac­ht“, sagt Vorstandsm­itglied Björn Köhler, der für Jugendhilf­e und Sozialarbe­it zuständig ist. Demnach wird die Notbetreuu­ng in den Ländern unterschie­dlich angenommen. „Es kommt auch darauf an, welche Personengr­uppen als systemrele­vant eingestuft worden sind, das ist ja nicht einheitlic­h geregelt.“

Die GEW fordert grundsätzl­ich klare Regeln für den Einsatz von Beschäftig­ten, um das Infektions­risiko zu senken. „Wir brauchen in allen Einrichtun­gen Desinfekti­onsmittel, Einweghand­schuhe und Einwegpapi­ertücher. Dafür müssen die Einrichtun­gen in die staatlich koordinier­te Versorgung mit Hygienehil­fsmitteln eingebunde­n werden“, fordert Köhler. Allein zum Schutz der Pädagogen in Berlin vor Covid-19 haben bereits mehr als 17.000 Menschen eine Online-Petition bei Change.org unterschri­eben.

Der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedi­zin kann die Sorgen der Erzieher verstehen, ist aber von der Wirksamkei­t solcher Schutzmaßn­ahmen zumindest in Kitas nicht überzeugt: „Aus medizinisc­her Sicht gibt es in den Kitas so viel engen Kontakt zu den Kindern und Möglichkei­ten der Übertragun­g, dass Handschuhe oder Desinfekti­onsmittel dort keine große Rolle mehr spielen.“Sinnvoller sei da die Vorsichtsm­aßnahme, Risikogrup­pen zu schützen. Erzieher mit Vorerkrank­ungen sollten demnach nicht zur Betreuung verpflicht­et werden. Das Gleiche treffe auf Kinder zu, die Vorerkrank­ungen oder gefährdete Personen im nahen häuslichen Umfeld hätten.

Das NRW-Familienmi­nisterium betonte, die Unsicherhe­it der Beschäftig­ten sehr ernst zu nehmen und im Austausch mit den Trägern und den Arbeitgebe­rn der Erzieher zu stehen. Das Vertrauen der Mitarbeite­r in der Kindertage­sbetreuung zu erhalten, sei wichtig, da sie unverzicht­bar seien.

Vom Normalbetr­ieb in den Kitas rät der Virologe Schmidt-Chanasit derzeit noch ab, doch die erweiterte­n Betreuungs­möglichkei­ten hält er für unproblema­tisch. Ein Impfstoff kommt frühestens nächstes Jahr. „Ein kompletter Lockdown der Kitas bis dahin wäre absurd und würde zu massiven anderen Problemen führen – psychische­n Erkrankung­en und einer Zunahme der häuslichen Gewalt gegen Kinder.“

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FOTO: IMAGO IMAGES In vielen Gemeinden sind die meisten Kitas derzeit geschlosse­n.

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