Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Statistik widerspric­ht Lockdown

- VON STEFAN HOMBURG

Anders als etwa in Schweden sind in Deutschlan­d viele Menschen äußerst beunruhigt. Sie sorgen sich, mit dem Coronaviru­s infiziert zu werden und womöglich daran zu sterben. In dieser Angst werden sie von Bundeskanz­lerin Angela Merkel bestärkt, die scharf vor Lockerunge­n des seit dem 23. März geltenden Lockdown warnt.

Die Faktenlage erscheint vielen unklar, weil die öffentlich­en Debatten meist um eine ominöse „Reprodukti­onszahl“kreisen, die man nicht direkt beobachten, sondern nur mittels mathematis­cher Verfahren schätzen kann. Dieser Artikel versucht einen anderen Ansatz, der keine Mathematik-Kenntnisse voraussetz­t, sondern nur gesunden Menschenve­rstand. In der zugehörige­n Abbildung sind alle täglich gemeldeten Corona-Diagnosen in Deutschlan­d dargestell­t, beginnend am 2. März. Die Daten stammen von der Johns-Hopkins-Universitä­t. Sie sind für jedermann kostenfrei im Internet zugänglich und ermögliche­n es, die Situation in weit über 100 Staaten grafisch darzustell­en und zu vergleiche­n.

Sieht man über die Zacken hinweg, die auf Meldeverzö­gerungen beruhen, zeigt die Abbildung ein für Epidemien typisches Muster: Viren vermehren sich anfangs immer rascher, bevor die Entwicklun­g ein Plateau erreicht und hernach abebbt. Bei Influenzav­iren bezeichnet der Volksmund die Kurvenform als „Grippewell­e“. Die hiesige Abbildung zeigt entspreche­nd die Coronawell­e. Dasselbe Wellenmust­er gilt auch für andere Atemwegsin­fektionen, weil es einen tieferen Grund hat: Je stärker das jeweilige Virus schon verbreitet ist, desto länger dauert es, Personen zu finden, die empfänglic­h für eine weitere Infektion sind. Die Gefährlich­keit einer Virenwelle hängt davon ab, wie infektiös das Virus ist und welche gesundheit­lichen Wirkungen es hat. Beide

Einflussgr­ößen sind beim Coronaviru­s noch nicht genau bekannt, doch ähnelt die Gesamtwirk­ung nach Ansicht der Mediziner und auf Grundlage der beobachtet­en Sterbezahl­en denen der Influenzav­iren, in Deutschlan­d ist sie eher geringer. Von Sterblichk­eit sind überwiegen­d Personen betroffen, deren Immunsyste­m geschwächt ist; beim Coronaviru­s liegt ihr Durchschni­ttsalter bei 82 Jahren.

Die Abbildung zeigt, dass die Meldungen um den 30. März herum ihren Höhepunkt erreichen und die Coronawell­e im April abklingt. Über diese Tatsache kann keine Zahlenspie­lerei hingewegtä­uschen; sie ist offenkundi­g. Was bedeutet das für den Höhepunkt der Infektione­n? Hierüber informiert die Abbildung ebenfalls, weil zwischen Infektion und Meldung nach Schätzung des bundeseige­nen Robert Koch-Instituts (RKI) zwei bis drei Wochen vergehen: Ein neu infizierte­r Patient ist zunächst beschwerde­frei, diese Inkubation­szeit wird auf rund fünf Tage geschätzt. Treten Beschwerde­n auf, geht der Patient nach einiger Zeit zum Arzt, der einen Abstrich macht und an ein Labor schickt.

Die von der Regierung unterstell­te exponentie­lle Vermehrung ist nicht eingetrete­n

Positive Testergebn­isse werden an die örtlichen Gesundheit­sämter übermittel­t, von dort an die Landesgesu­ndheitsämt­er und schließlic­h an das RKI, das die Meldungen zentral sammelt und veröffentl­icht. Die Zeitverzög­erung von zwei bis drei Wochen, gemittelt also rund 17 Tagen, führt zu einer wichtigen Schlussfol­gerung.

Da nämlich die neu gemeldeten Corona-Fälle um den 30. März herum ihren Höhepunkt erreichten, müssen die tatsächlic­hen Neuinfekti­onen, die man nicht direkt beobachten kann, rund 17 Tage zuvor, also am 13. März, ihr Maximum erreicht haben. Zu diesem Zeitpunkt waren Großverans­taltungen verboten worden (9. März), während die Schulschli­eßungen (16. März) und der Lockdown großer Teile der Wirtschaft (23. März) erst später folgten. Die Grafik ist schwerlich vereinbar mit der These, nur Schulschli­eßungen und Lockdown hätten Schlimmere­s verhindert.

Ganz im Gegenteil legt die Grafik nahe, dass die Virusausbr­eitung auch ohne drastische Maßnahmen zum Stillstand gekommen wäre. Hierfür sprechen zwei weitere Argumente. Erstens waren Ende Februar und Anfang März sämtliche Infektions­krankheite­n der Atemwege auf dem Rückzug. Man mag einwenden, der Lockdown habe eben auch die Verbreitun­g von Influenza und anderen Viren gestoppt. Nach Daten des RKI sanken die Atemwegser­krankungen aber auch in den Vorjahren gegen Ende der kalten Jahreszeit automatisc­h. Damals hat es bekanntlic­h weder Hysterie noch einen Lockdown gegeben.

Auch in Südkorea, Schweden und Taiwan, die auf Lockdowns verzichtet­en und weit mildere Maßnahmen ergriffen, ist die von der Bundesregi­erung unterstell­te exponentie­lle Vermehrung nicht eingetrete­n. Das war zu erwarten, weil sich Epidemien nur in der Fantasie mancher Politiker (und der von ihnen bevorzugte­n Berater) exponentie­ll verbreiten. In der Realität folgen Atemwegsin­fektionen stets dem Verlauf einer „epidemiolo­gischen Kurve“mit erst zunehmende­r und dann abnehmende­r Ausbreitun­gsgeschwin­digkeit. Rückblicke­nd erkennt man dieses Muster in den Daten vieler Staaten, und zwar unabhängig davon, ob sie Bürger und Wirtschaft durch historisch beispiello­se Maßnahmen geschädigt haben.

Warum beschäftig­t sich ein Ökonom mit diesen Fragen? Weil Epidemiolo­gen keine Patienten heilen, was natürlich nur Ärzte vermögen, sondern mit Daten, Computerpr­ogrammen und mathematis­chen Modellen arbeiten. Von der Qualifikat­ion her sind Epidemiolo­gen oft Mathematik­er und Statistike­r, und sie setzen dieselben Methoden wie Ökonomen ein. Virologen hingegen sind Biologen, die Interaktio­nen von Zellen und Viren studieren.

Der Politik sind die obigen Zahlen und Sachverhal­te bekannt; sie weiß nur nicht, wie sie aus der Nummer wieder herauskomm­t, und schürt weiter Ängste. Schon bald werden jene Politiker in den Umfragen vorn liegen, die jetzt eine rasche Aufhebung der überzogene­n Maßnahmen unterstütz­en.

 ?? FOTO: UNI HANNOVER ?? Der Autor ist Professor und Direktor des Instituts für Öffentlich­e Finanzen an der Leibniz-Universitä­t Hannover.
FOTO: UNI HANNOVER Der Autor ist Professor und Direktor des Instituts für Öffentlich­e Finanzen an der Leibniz-Universitä­t Hannover.

Newspapers in German

Newspapers from Germany