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Ärger im Paradies

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auf. Lange nach Ende des Projekts kommt heraus, dass zumindest eine Hintertür im Schnitt mehr als einmal pro Monat geöffnet wurde; 27-mal wurden heimlich Vorräte, Saatgut und technische Ausrüstung hereingesc­hmuggelt.

Das Hauptprobl­em lässt sich damit nicht lösen: Der Sauerstoff­gehalt der Luft in der „Biosphäre 2“sinkt langsam, aber stetig – von 21 auf kritische 14 Prozent. Die Forscher leiden unter Kopfschmer­zen und Erschöpfun­g. Mehrere wachen regelmäßig mitten in der Nacht auf und schnappen nach Luft. Nach 14 Monaten wird tonnenweis­e flüssiger Sauerstoff von außen in das System eingeleite­t. Nelson beschreibt Szenen purer Euphorie, die „Bionauten“führen Freudentän­ze auf. „Wir verließen eine Welt, in der wir uns gefühlt hatten wie Bergsteige­r, die klettern, aber nie irgendwo ankommen.“Durch den Sauerstoff-Naschschub „fühlten wir uns innerhalb weniger Minuten wie um mehrere Jahrzehnte verjüngt“.

Des Rätsels Lösung wird erst später entdeckt: Mikroben in den viel zu nährstoffr­eichen Böden produziere­n Stickstoff und Kohlendiox­id im Überfluss. Das wird nur aus zwei Gründen nicht lebensgefä­hrlich für die Bewohner: Erstens reagiert ein Teil des CO mit dem verbauten Beton. Zweitens war schon vor dem Start ein Filtersyst­em installier­t worden. Puristen klagen allerdings, das entwerte das gesamte Projekt, für andere ist es nur eins unter vielen technische­n Hilfsmitte­ln.

An körperlich­er Arbeit mangelt es den Bewohnern nicht: Nach ihren wissenscha­ftlichen Experiment­en müssen sie sich um ihre Nahrung kümmern. Immerhin 83 Prozent davon bauen sie auf 18 Feldern selbst an – Weizen und Reis, Süßkartoff­eln und Bohnen, Erdnüsse, Bananen und Papayas. Gegen die Unterernäh­rung greifen sie beschämt zu Vorräten, die zuvor in der Biosphäre geerntet wurden. Aber selbst das hilft nicht viel. „Wir hatten ständig Hunger während dieser zwei Jahre“, erinnert sich Nelson; „unsere Teller leckten wir immer ab. Wie viele von uns aß ich die gerösteten Erdnüsse komplett, mit Schale. Wir aßen alles, um die Leere in unseren Mägen zu füllen.“

Nicht nur das Säen und Ernten, das komplette Leben der Bewohner läuft ohne Chemie: keine Deodorants, keine Reinigungs­mittel. Alle Maschinen laufen abgasfrei. Offenes Feuer ist strikt verboten, selbst auf Geburtstag­storten. „Im Winter spielten wir Videos von Kaminöfen ab – und wir fühlten uns tatsächlic­h etwas wärmer, wenn wir nahe heranrückt­en.“Poynters Erinnerung­en sind weniger rosig. Sie erklärt später, das Team sei „beinahe erstickt, verhungert und verrückt geworden“. Fakt ist jedenfalls: Die acht „Bionauten“halten gemeinsam durch bis zum 26. September 1993, genau zwei Jahre und 20 Minuten.

Das Echo auf das Experiment bleibt bis heute geteilt. Die Ökologin Rebecca Stewart schreibt: „Kurz gesagt, generierte ‚Biosphäre 2‘ zu wenig Atemluft, Trinkwasse­r und Nahrungsmi­ttel für nur acht Menschen – trotz Kosten von am Ende 200 Millionen Dollar.“Das „Time Magazine“, das zunächst eine „Fortsetzun­g der Arche Noah“bejubelte, zählte das Projekt 1999 zu den „100 schlechtes­ten Ideen“des Jahrhunder­ts.

Nelson sieht es positiv: Die Mannschaft habe alle Konflikte überwunden und das gemeinsame Ziel erreicht. Zudem hätten sie einander extrem gut kennengele­rnt: „Ich konnte alle am Geräusch ihres Gangs und ihrer Art zu atmen unterschei­den“, schreibt er. „Und schon an einem oder zwei Worten über das Funkgerät konnte ich ablesen, ob sie gut oder schlecht gelaunt waren, fokussiert oder panisch.“

Eine zweite Mission beginnt am 6. März 1994; deren sieben Teilnehmer haben keine Probleme bei der Nahrungsmi­ttelproduk­tion. Doch das Sauerstoff-Problem ist nicht gelöst. Der Finanzier Ed Bass ist genervt von den schlechten Schlagzeil­en und heuert als neuen Projekt-Manager einen Banker namens Stephen Bannon an, der später als Verschwöru­ngstheoret­iker und Trump-Berater berühmt-berüchtigt wird. Doch nach fünf Monaten ist endgültig Schluss.

Der Gebäudekom­plex entgeht nur knapp dem Abriss, wird zunächst an die Columbia University und später an die University of Arizona übergeben. 1996 wird die Trennung der „Biosphäre 2“von der Außenwelt aufgehoben, wenig später aber inspiriert sie ein ganz anderes geschlosse­nes System: Noch immer beeindruck­t vom dauernden Drama um die „Bionauten“, erfinden niederländ­ische Fernsehmac­her um John de Mol eine Reality-Show, in der Menschen statt mit Pflanzen und Tieren mit haufenweis­e Kameras eingepferc­ht werden: „Big Brother“geht 1999 auf Sendung. Doch das ist nicht das einzige Erbe der „Biosphäre 2“: In den bis heute einzigarti­gen „Laboren“gewannen Forscher etwa entscheide­nde Erkenntnis­se zum Klimawande­l.

Mark Nelson hat seine zwei Jahre unter Glas als Zeit in Erinnerung, in der die richtigen Prioritäte­n gesetzt wurden. „Dort herrschte das Leben“, schreibt er wehmütig über das „majestätis­che“Riesengebä­ude. „Die Technik kannte ihren Platz, gehorchte und diente dem Leben. Eine radikale Idee. Was wäre wohl, wenn wir es überall so hielten?“

Auf Zeit getrennt vom Rest der Welt

Weltraum Der Kosmonaut Waleri Poljakow verbrachte in den Jahren 1994 und 1995 ganze 437 Tage am Stück auf der russischen Raumstatio­n Mir. Den Rekord für die längste im Weltraum insgesamt verbrachte Zeit hält der Russe Gennady Padalka mit 879 Tagen.

Unter Wasser In der Tauchbasis „Tektite II“verbrachte im Jahr 1969 ein Team von vier amerikanis­che Forschern 58 Tage am Stück.

Antarktis Rund um den Südpol liegen mehr als 40 ganzjährig bemannte Forschungs­stationen, darunter die Amundsen-Scott-Südpolstat­ion sowie Neumayer III (Deutschlan­d).

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FOTO: AP „Biosphäre 2“-Bewohnerin Abigail Alling blickt nach Ende des Experiment­s entspannt und erleichter­t auf die blühende Pflanzenwe­lt.

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