Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Vernunft gegen Wunschdenken
Der renommierte Finanzwissenschaftler Stefan Homburg argumentiert in einem Gastbeitrag vom 27. April gegen die Wirksamkeit des Lockdowns in Deutschland. Sind seine Thesen haltbar? Die Frage ist wichtig, weil sie nicht nur von Homburg, sondern auch von vielen anderen im Internet derzeit intensiv diskutiert wird.
Homburgs Argumentation beruht auf der Auswertung einer Statistik der Neudiagnosen der Johns-Hopkins-Universität. Homburg erkennt den Zenit der Neudiagnosen um den 30. März herum. Er unterstellt einen Meldeverzug von etwa zwei Wochen. Somit wäre es so gewesen, dass die Zahl der Infektionsfälle schon zurückging, bevor der Lockdown in Deutschland zur Wirkung kam. Dies sei typisch für Virusinfektionen. Homburg vergleicht dies ausdrücklich mit der, wie er sich ausdrückt, „im Volksmund bekannten Grippewelle“. Er führt aus, dass er dasselbe Wellenmuster für andere Atemwegsinfektionen kenne. Wenn es keine Personen mehr gebe, die für eine Infektion anfällig seien, gehe die Infektion zurück. Zusammenfassend ist für den Finanzwissenschaftler Stefan Homburg Covid-19 nichts anderes als eine gewöhnliche Atemwegserkrankung oder eine Grippewelle, die sich nach wenigen Wochen totlaufe. Und dann spontan ende.
Wie soll man dies interpretieren? Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste ist, dass Stefan Homburg tatsächlich die wissenschaftliche Literatur zu Covid-19 bisher nicht kennt und auf der Grundlage eines laienhaften Verständnisses eine solche wissenschaftlich abwegige Interpretation wirklich für denkbar hält. Dann hätte er geglaubt, mit einem scharfen Blick auf die täglichen Infektionszahlen und einem allgemeinen Wissen über Grippewellen etwas erkannt zu haben, was weltweit zahlreiche Wissenschaftler nicht verstehen konnten. Diese
Experten schauten vielleicht zu weit. Und die Lösung, die Homburg sieht, lag doch so nahe.
Wer Homburg kennt, weiß natürlich, dass dies nicht der Fall sein kann. Homburg ist nicht naiv. Für jeden, der sich mit der tatsächlichen Wirksamkeit von Lockdown-Maßnahmen auseinandersetzen will, sei verwiesen auf eine wissenschaftliche Analyse der Weltgesundheitsorganisation, der London School of Tropical Hygiene and Public Health, der Universität Oxford und der Universität Wien. Im Fachmagazin „Nature“wurde über die Studie dieser Arbeitsgruppe zur Wirksamkeit von Lockdowns berichtet. Dabei wurden Hunderte unterschiedliche Interventionen ausgewertet und in fünf Kategorien von wenig stringent bis sehr stringent eingeteilt. Darin befindet sich auch eine Analyse für Deutschland, die Homburgs Aussagen klar widerlegt.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass noch vor dem Lockdown die Menschen damit begannen, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen und Abstand zu wahren. Dies taten sie insbesondere unter dem Eindruck der bestürzenden Bilder aus Italien. Dennoch wären auch hierzulande Verhältnisse wie in Italien ohne den dann folgenden Lockdown leider nicht vermeidbar gewesen. Dies erkennt man daran, dass die Infektionszahlen nach jeder Verschärfung des Lockdowns weiter zurückgegangen sind. Es gibt zahlreiche Studien, die nahelegen, dass eine Fortsetzung des Lockdowns für Gesundheit und Wirtschaft möglicherweise sogar die überlegene Strategie gewesen sein könnte. Leider sind die Zahl der Neuinfektionen und die Reproduktionszahl trotz all dieser Bemühungen nicht wirklich optimal, und wir sind nach wie vor stark rückfallgefährdet.
Interessanter als Homburgs Äußerungen zur Epidemiologie sind seine Ausführungen zur Politik. Homburg schreibt, dass sich „Epidemien nur in der Fantasie mancher Politiker und der von ihnen bevorzugten Berater exponentiell
Auch hierzulande wären Verhältnisse wie in Italien ohne den Lockdown nicht vermeidbar gewesen verbreiten“, in der Realität „folgten Atemwegsinfektionen stets dem Verlauf einer epidemiologischen Kurve mit erst zunehmender und dann abnehmender Ausbreitungsgeschwindigkeit“. Hier zeigt sich, worum es Stefan Homburg wirklich geht. Er will eine Verschwörungstheorie verbreiten, in der Politiker der Bevölkerung eine Epidemie einreden, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Über seine Motive möchte ich hier nicht spekulieren. Tatsache aber ist, dass es genau diese Beiträge sind, die darüber entscheiden werden, ob die Gesellschaft sich spaltet. In eine Gruppe derer, die sich durch Wissenschaft und Vernunft leiten lassen. Und in eine andere Gruppe, die Irrationalität, Verschwörungstheorien, Unterstellungen und Gefühlen die Bewertung der Gefahrenlage überlässt.
Mit wahrscheinlich weniger als drei Prozent immunisierten Menschen in Deutschland liegt für 97 Prozent die Pandemie als Risiko noch vor ihnen. Selbst für die drei Prozent, die bereits erkrankt waren, ist es unklar, ob sie dauerhaft immun sind. Daher werden wir bis zu einer Impfung den Kampf zwischen Wissenschaft und Vernunft auf der einen Seite und Irrationalität, Wunschdenken und Verschwörungstheorien auf der anderen Seite führen müssen. Die Debatte um die Wirksamkeit von Maßnahmen muss geführt werden. Immer wieder müssen alle Maßnahmen geprüft werden. Dabei müssen auch ethische und ökonomische Aspekte neben den rein medizinischen jederzeit beachtet werden. Was aber nicht akzeptiert werden darf, ist die Bewertung der Fakten und Argumente auf der Grundlage geschickt vorgetragener Verschwörungstheorien gegen Wissenschaftler und Regierungspolitiker.