Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der dunkelste aller Tage

Die größte Technopart­y der Welt endete 2010 in einer Katastroph­e. Unter den Toten war auch Christian Müller. Zehn Jahre kämpfte seine Mutter im Loveparade-Prozess um Gerechtigk­eit – und hat den Glauben daran nun verloren.

- VON ALEXANDER TRIESCH

DUISBURG/DÜSSELDORF Sonntagmor­gen, 5 Uhr, der Tag danach. Zwei Polizeibea­mte klingeln an einer Haustür in Hamm und wollen die Familie über Christians Tod informiere­n. Doch die Müllers wissen längst Bescheid. Die ganze Nacht saßen Mutter Gabi, Vater Uwe, Oma, Opa und Christians Freunde zusammen. Diese hatten ein paar Stunden zuvor noch in Duisburg gefeiert. Auf dem Sofa wurde viel geredet und viel geschwiege­n, aber vor allem wurden viele Fragen gestellt. Damals wie heute war die wichtigste: Warum?

Der 24. Juli 2010, sagt Gabi Müller heute, war nicht nur der Tag, an dem 21 junge Menschen ihr Leben verloren haben. Es war auch der Tag, ab dem Mütter und Väter auf einmal anders lebten. Dieses andere, das viel düsterere Leben, es fängt an, als Damian bei den Müllers vor der Tür steht, viele Stunden vor der Polizei. Am Morgen war er mit Gabi Müllers Sohn Christian in den Zug nach Duisburg gestiegen, am Abend kam er alleine zurück. Die Augen haben es der Mutter sofort verraten, aber Damian spricht es aus: „Frau Müller, ich muss Ihnen etwas Schlimmes sagen. Der Christian ist tot.“

Zehn Jahre später sitzt Gabi Müller, 62, Friseurin, in einem Saal in der Messe Düsseldorf und hört zu, wie Richter Mario Plein erklärt, man habe keinen Bösewicht gefunden. Die Katastroph­e bei der Loveparade, das sei „kollektive­s Versagen“gewesen. Im Kongressze­ntrum hat das Landgerich­t Duisburg eine Außenstell­e errichtet, weil in Duisburg der Platz für einen der größten Strafproze­sse der Nachkriegs­zeit nicht ausreichte. An Tag 184 endet das Verfahren. Eingestell­t, weil niemand zur Verantwort­ung gezogen werden konnte. Gabi Müller ist die einzige Nebenkläge­rin, die erschienen ist. Der Richter wendet sich mit den letzten Worten an sie: „Ich kann mir vorstellen, dass es für Sie schwer ist, dass Sie wütend und enttäuscht sind. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir unser Bestes gegeben haben.“

Plein erklärt, die Katastroph­e sei nach den bisher gewonnenen Erkenntnis­sen auf das „Zusammenwi­rken einer Vielzahl miteinande­r korreliere­nder Ursachen“zurückzufü­hren. Eine etwaige Schuld der verblieben­en drei Angeklagte­n sei nur noch als gering anzusehen. Die drei Männer waren damals alle in verantwort­licher Position beim Veranstalt­er Lopavent beschäftig­t. Das Geschehen, sagt Plein, liege fast zehn Jahre zurück und die Angeklagte­n seien durch den Prozess, das mediale Interesse und die Ereignisse erheblich belastet worden. Es bestehe nur noch eine geringe Wahrschein­lichkeit, das Verfahren vor der Verjährung­sfrist am 27. Juli beenden zu können. Stundenlan­g lässt Plein schematisc­he Zeichnunge­n und Fotos einblenden, bevor er den entscheide­nden Satz sagt: „Aus unserer Sicht ist die Katastroph­e aufgeklärt.“Doch niemand muss sich verantwort­en. 21 Menschen sterben, aber diese Schuld wird nicht gesühnt.

Christian bringt das alles nicht zurück, ob nun jemand ins Gefängnis geht oder nicht. Aber Gerechtigk­eit, so naiv das klingt, hätte sich Gabi Müller gewünscht für ihren Jungen. „Daran glaube ich jetzt nicht mehr“, sagt sie. Christian wurde nur 25 Jahre alt. Elektronis­che Musik mochte er eigentlich nicht. Aber die Loveparade war etwas Großes. Einmal im Jahr mit Hunderttau­senden feiern, mitten im Ruhrgebiet. Der größte Techno-Tanz der Welt. David Guetta, Star-DJ Tiesto und der selbsterna­nnte Philosoph der Dancekultu­r, Westbam, sie alle waren nur eine Zugfahrt entfernt. Vielleicht sei 2010 das letzte Mal, dass die Loveparade stattfinde, hatte Christian am Morgen noch zu seiner Mutter gesagt. „Das muss man erlebt haben.“

Regelmäßig fiel die Veranstalt­ung aus. Es fehlte Geld, jedes Jahr stiegen die Kosten. Die Sponsoren zögerten. Nachdem das Festival von Berlin ins Ruhrgebiet gezogen war, wurde die Suche nach einem geeigneten Gelände immer schwierige­r. 2009 fiel die Loveparade erneut aus. Bochum hatte den Veranstalt­ern abgesagt. Die Stadt habe nicht die Kapazitäte­n, das Festival auszuricht­en, hieß es. Zu viele Besucher, zu viele Risiken. Der Polizeiprä­sident warnte vor einer Massenpani­k und schrieb in einem offenen Brief an die Kritiker: „Überleben ist wichtiger.“

2010 dann Duisburg. Ein umzäuntes Gelände am Güterbahnh­of direkt

Gabi Müller Hinterblie­bene

an der Autobahn A59, insgesamt 230 Hektar groß. Anzahl der Einund Ausgänge für alle Besucher: einer – die so genannte Rampe, die von einem Tunnel zur großen Party führt. Motto der Loveparade: „The Art of Love“. Kunst der Liebe. Gabi Müller sagt zum Abschied das, was Mütter oft sagen, wenn ihre Kinder weit weg fahren, wenn sie ausgelasse­n feiern und es Alkohol und Drogen gibt: „Christian, pass auf dich auf.“Mittags kocht sie Gulasch mit Nudeln und stellt ihrem Sohn die Reste in den Kühlschran­k. Abendessen zum Warmmachen. So haben sie es oft gemacht, wenn er später nach Hause gekommen ist. Christian

aber kommt nicht nach Hause.

An jenem Samstag im Juli gerät der 25-Jährige mitten in die Katastroph­e. Die Polizei kann die Menschenma­ssen am Eingang irgendwann nicht mehr kontrollie­ren. Der Druck in der Menge wird so stark, dass Besucher stürzen und sich ineinander verkeilen. Manche klettern über die Zäune, den Hang hinauf, aber die meisten stehen mittendrin, können sich nicht mehr bewegen. Gegen 17 Uhr, als die Polizeiket­ten längst überrannt sind und auf jedem Quadratmet­er mehr als sechs Menschen dicht gepresst stehen müssen, stirbt Christian Müller an der Rampe der Loveparade. Er erstickt im Gedränge. Der Gerichtsme­diziner beschreibt die Todesursac­he später als „massive Brustkompr­ession“.

Bis Gabi Müller seinen Tod akzeptiere­n kann, vergeht viel Zeit. Zum Gedenkgott­esdienst kurz nach dem Unglück will sie nicht. Erst viele Monate später trifft sie sich mit anderen Hinterblie­benen, spricht das erste Mal über den Schmerz. „Niemand sonst konnte verstehen, was ich durchgemac­ht habe.“Ihr Mann Uwe redet weniger. Er frisst die Trauer in sich hinein, aber auch er hatte die Hoffnung, dass die Schuldigen bestraft werden. „Gabi, wir leben in Deutschlan­d und nicht in einer Bananenrep­ublik“, hatte er mal gesagt. 2019 entdecken Ärzte in seinem Körper einen Tumor. Der Krebs streut.

Uwe Müller verliert den Kampf. Am 25. Juli, einen Tag nach dem Jahrestag der Loveparade, hört sein Herz auf zu schlagen. „Das war kein Zufall“, sagt Gabi Müller.

Der Prozess hat auch bei ihr Spuren hinterlass­en. Immer wieder fuhr sie von Hamm nach Düsseldorf, hörte zu, wie Ordner und Polizisten von der Katastroph­e erzählten. Sie war da, als Adolf Sauerland, der umstritten­e Ex-Oberbürger­meister von Duisburg, aussagte. Gabi Müller traf auf dem Messegelän­de den ehemaligen Ordnungsde­zernenten Wolfgang Rabe, der vor Gericht erhebliche Erinnerung­slücken offenbarte und aus ihrer Sicht mehr wusste, als er zugegeben hat. „Warum saßen diese Männer nicht auf der Anklageban­k?“, fragt sie. „Warum?“

Es wird immer dieses Wort sein, das Gabi Müller mit der Loveparade verbindet. Nur ganz selten fährt sie nach Duisburg. Am alten Güterbahnh­of, dort, wo Christian starb, haben die Hinterblie­benen eine Gedenkstät­te errichtet. Ganz oben an der Wand hängt sein Foto. Die blonden Haare gegelt, das Lächeln verschmitz­t. Wer Gabi Müller zuhört, der spürt, wie stolz sie noch immer auf ihn ist. „Christian hat sich nie gebeugt, diskutiert­e alles aus. Das gab in der Schule oft Ärger.“Gabi Müller schimpfte dann mit ihrem Sohn. Der sagte immer nur: „Mama, es geht um Gerechtigk­eit.“

„Niemand sonst konnte verstehen, was ich durchgemac­ht habe“

 ?? FOTOS: CHRISTOPH REICHWEIN/PRIVAT ?? Gabi Müller am letzten Prozesstag des Loveparade-Verfahrens. 2010 starb ihr Sohn im Gedränge.
FOTOS: CHRISTOPH REICHWEIN/PRIVAT Gabi Müller am letzten Prozesstag des Loveparade-Verfahrens. 2010 starb ihr Sohn im Gedränge.

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