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Studie: 22 Prozent ohne Symptome

Der Virologe Hendrik Streeck hat seine Heinsberg-Untersuchu­ng der Öffentlich­keit vorgestell­t. Das Echo fiel positiv aus.

- VON WOLFRAM GOERTZ UND MAXIMILIAM PLÜCK

HEINSBERG Fast begann die Welt schon, Heinsberg ein wenig aus den Augen zu verlieren, weil das Coronaviru­s Deutschlan­d längst in der Fläche erreicht hat. Doch nun rückt einer der ersten deutschen Hotspots der Pandemie wieder in den Mittelpunk­t: Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hat die Ergebnisse seiner Heinsberg-Studie vorgestell­t.

In dieser Studie hatte er mit einem Forschungs­team in der Ortschaft Gangelt eine große Zahl von Einwohnern befragt, Proben genommen und analysiert – und vor allem die Sterblichk­eitsrate der Infektion bestimmt. 919 Studientei­lnehmer aus 405 Haushalten wurden vom 30. März bis 6. April sechs Wochen nach dem Ausbruch der Infektion in Gangelt befragt und getestet. Die Wissenscha­ftler nahmen Rachenabst­riche und Blutproben. Die Ergebnisse der Studie sollen nun noch im sogenannte­n Peer-Review-Verfahren extern begutachte­t und dann auch in einem Fachmagazi­n publiziert werden.

Im Zentrum der Studie steht die Sterblichk­eitsrate der Infektion („Infection Fatality Rate“, kurz IFR), die den Anteil der Todesfälle unter den Infizierte­n bemisst. „Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchse­reignis infiziert wurden. In unserer Studie waren das 15 Prozent für die Gemeinde Gangelt. Mit der Gesamtzahl aller Infizierte­n kann die Infektions­sterblichk­eit bestimmt werden. Sie liegt für Sars-CoV-2 für den Ausbruch in der Gemeinde Gangelt bei 0,37 Prozent“, sagt der Bonner Virologie-Professor.

Mit der IFR lasse sich anhand der Zahl der Verstorben­en auch für andere Orte mit anderen Infektions­raten abschätzen, wie viele Menschen dort insgesamt infiziert sind – also auch, wie hoch die sogenannte Dunkelziff­er ist. Sie lässt sich ermitteln, wenn man die IFR mit der Zahl der offiziell gemeldeten Infizierte­n abgleicht. Diese ist in Gangelt rund um das Fünffache höher als die offiziell berichtete Zahl der positiv getesteten Personen. Streecks Theorie geht nun so: Legt man für eine Hochrechnu­ng etwa die Zahl von fast 6700 Sars-CoV-2-assoziiert­en Todesfälle­n in Deutschlan­d zugrunde, so ergäbe sich eine geschätzte Gesamtzahl von rund 1,8 Millionen Infizierte­n. Diese Dunkelziff­er ist um den Faktor zehn größer als die Gesamtzahl der offiziell gemeldeten Fälle (derzeit etwa 165.000 Fälle).

Die Studie, so heißt es aus Bonn, bestätige überdies bisherige Vermutunge­n Streecks, dass Geruchs- und Geschmacks­verlust bei den Symptomen im Vordergrun­d stehen. Insgesamt 22 Prozent aller Infizierte­n hätten aber auch gar keine Symptome gezeigt. Die meisten Symptome meldeten Personen, die an der Gangelter Karnevalss­itzung teilgenomm­en haben. „Dass offenbar jede fünfte Infektion ohne wahrnehmba­re Krankheits­symptome verläuft, legt nahe, dass man Infizierte, die das Virus ausscheide­n und damit andere anstecken können, nicht sicher auf der Basis erkennbare­r Krankheits­erscheinun­gen identifizi­eren kann“, meint Martin Exner, Leiter des Bonner Instituts für Hygiene und öffentlich­e Gesundheit und Co-Autor der Studie.

Hatte NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) für die Vorstellun­g der Zwischener­gebnisse noch in die Staatskanz­lei gebeten, so hielt sich der Regierungs­chef diesmal vornehm zurück. Die Ergebnisse

seien derart komplex, „dass man nicht mal eben aus dem Ärmel auf der Fahrt von Aachen nach Köln diese Studie auf Englisch durchforsc­hen konnte“, sagte Laschet am Rande eines Termins bei Ford in Köln. Streecks Grundvermu­tung, dass es eine höhere Dunkelziff­er gebe als nachgewies­ene Infektione­n,

„liegt aber jetzt erstmals wissenscha­ftlich bearbeitet vor. Sie ist ein wichtiges Dokument auch für die künftigen Diskussion­en in Deutschlan­d“, sagte Laschet.

Ob die Daten wirklich für ganz Deutschlan­d gültig sind? „Das muss man ein bisschen mit Vorsicht genießen, es ist eine Schätzung“, sagte Streeck. Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiolo­gie am Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung in Braunschwe­ig, warnte davor, die Zahlen aus Gangelt auf ganz Deutschlan­d zu übertragen. „Ich bin da doch eher zurückhalt­end“, sagte er. Insgesamt bezeichnet­e Krause die Daten der Studie allerdings als „sehr überzeugen­d“.

Jörg Timm, Professor für Virologie am Universitä­tsklinikum Düsseldorf, äußerte sich ähnlich: „Es ist sehr zu begrüßen, dass die detaillier­ten Ergebnisse der Studie jetzt veröffentl­icht wurden. Ich bin davon überzeugt, dass die Daten einen wichtigen Beitrag zu unserem Verständni­s des Infektions­geschehens mit Sars-CoV-2 darstellen, auch wenn die Situation in Gangelt nicht unbedingt repräsenta­tiv für die Gesamtsitu­ation in Deutschlan­d ist.“

 ?? FOTO. IMAGO IMAGES ?? Hendrik Streeck bei einer Pressekonf­erenz zur Vorstellun­g der Heinsberg-Studie Anfang April in der Staatskanz­lei.
FOTO. IMAGO IMAGES Hendrik Streeck bei einer Pressekonf­erenz zur Vorstellun­g der Heinsberg-Studie Anfang April in der Staatskanz­lei.

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