Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Flüchtlingsjungen statt Flüchtlingsmädchen
Deutschland hat nicht die Kinder aus griechischen Lagern geholt, die ursprünglich geholt werden sollten.
BERLIN Der Satz im Beschlusspapier des Koalitionsausschusses Anfang März ließ aufhorchen. „Deswegen wollen wir Griechenland bei der schwierigen humanitären Lage von etwa 1000 bis 1500 Kindern auf den griechischen Inseln unterstützen. Es handelt sich dabei um Kinder, die entweder wegen einer schweren Erkrankung dringend behandlungsbedürftig oder aber unbegleitet und jünger als 14 Jahre alt sind, die meisten davon Mädchen.“Die meisten davon Mädchen? Bekannt war, dass Familien in Kriegsländern ihre Söhne auf die Flucht nach Europa schicken, weil sie die Stärksten sind und damit die größten Chancen haben, sich durchzuschlagen. Aber Mädchen? Das war neu.
Am 18. April trafen die ersten 42 Kinder und fünf Jugendlichen aus dramatisch überfüllten griechischen Flüchtlingslagern in Hannover ein. Die meisten davon Jungen, genauer gesagt: 43 Jungen und vier Mädchen im Alter von sechs bis 17 Jahren. Wie kam es zu dieser Auswahl? Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte auf Anfrage: „Um einen einheitlichen Maßstab zu wahren, wurden die Aufgabe der Identifikation der in Betracht kommenden Personen und die nachfolgende Zuweisung auf aufnahmebereite Mitgliedstaaten unter anderem der Europäischen Kommission, dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR, der Gemeinschaftsagentur EASO sowie den zuständigen Behörden in Griechenland zugewiesen.“
In Koalitionskreisen heißt es, Deutschland habe keine Beamten vor Ort gehabt und sich vollständig auf die Dossiers des UNHCR und der griechischen Behörden verlassen müssen. Dass die meisten unbegleiteten Jugendlichen männlich seien und oft älter als 14 Jahre, sei keine Überraschung. Womöglich sei die Formulierung mit den Mädchen auch gewählt worden, um die Akzeptanz der Aufnahme zu erhöhen. Aus Regierungskreisen verlautete unterdessen, es werde noch der Frage nach Zwangsprostitution und Menschenhandel mit Mädchen nachgegangen. Das solle aber zunächst ohne öffentliche Aufmerksamkeit geschehen.
Das Innenministerium erklärte ferner, die Regierung sei bestrebt, „möglichst zeitnah die Überstellung von weiteren minderjährigen Asylsuchenden entsprechend des Beschlusses des Koalitionsausschusses vom 8. März 2020 zu ermöglichen“. Darin heißt es auch, Deutschland stehe im Rahmen einer „Koalition der Willigen“innerhalb der EU bereit, einen „angemessenen Anteil“der Kinder zu übernehmen. Diese
Zahl wurde später mit etwa 350 angegeben.
Unionsfraktionsvize Thorsten Frei (CDU) sagte, es müsse um die absoluten Härtefälle gehen. Alles andere würde die Aufnahmebereitschaft schwächen. „Zudem würden unterschiedslose Aufnahmen neue Migrationsanreize setzen.“Er betonte: „Wir erwarten, dass auch die anderen europäischen Staaten ihre Zusagen einlösen.“Vorher werde Deutschland keine weiteren Kinder aufnehmen. Eine Sprecherin der Hilfsorganisation SOS-Kinderdorf sagte dagegen, es müsse unter Hochdruck daran gearbeitet werden, zügig weitere Kinder aus den griechischen Lagern herauszuholen, in denen akut kindeswohlgefährdende Zustände herrschten. Die Aufnahme von 350 Jungen und Mädchen bleibe weit unter den deutschen Möglichkeiten. Der Streit in der EU dürfe nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) mahnte: „Wir müssen allen Menschen in den Lagern helfen. Ich empfinde es als Schande, welche Zustände mitten in Europa akzeptiert werden.“Es müssten die unerträglichen Zustände für alle Flüchtlinge verbessert werden, sagte er unserer Redaktion. „Mit der Evakuierung der Kinder ist das Problem ja nicht gelöst.“