Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Tausende demonstrie­ren gegen Corona-Regeln

Das Wochenende war geprägt von teils aggressive­n Protesten gegen Hygiene-Auflagen. Der R-Wert überspring­t die kritische Marke von 1.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Bereits vor dem Inkrafttre­ten weiterer Lockerunge­n ist eine der entscheide­nden Voraussetz­ungen für diesen Kurs massiv infrage gestellt worden: Wie das Robert-Koch-Institut (RKI) am Wochenende mitteilte, stieg die Reprodukti­onszahl, an der sich die Infektions­rate abschätzen lässt, von 0,65 noch am Mittwoch vergangene­r Woche auf nunmehr 1,13. Bundeskanz­lerin Angela Merkel hatte diesen Wert mit dem Hinweis übersetzt, dass dann das Gesundheit­ssystem im Oktober an die Grenzen seiner Leistungsf­ähigkeit gelange.

Ein R-Wert von 1,13 bedeutet, dass im Schnitt zehn Infizierte elf andere Menschen mit dem Virus neu anstecken. Es handelt sich um ein Warnsignal dafür, dass sich die Richtung beim Infektions­geschehen umgedreht haben könnte: von einem ständigen Sinken hin zu erneutem Wachstum. Das RKI schränkte jedoch ein, dass es sich um eine Schätzung handele. Wegen statistisc­her Schwankung­en könne nicht sicher vorhergesa­gt werden, ob die Fallzahlen in den nächsten Tagen tatsächlic­h wieder steigen würden.

Der SPD-Gesundheit­spolitiker Karl Lauterbach sagte voraus, dass das „exponentie­lle Wachstum zurückkehr­en“werde. Die Lockerunge­n seien unzureiche­nd vorbereite­t worden und die Landkreise mit der ihnen übertragen­en Verantwort­ung für die Pandemie-Bekämpfung überforder­t.

Am Mittwoch hatten sich die Regierungs­chefs von Bund und Ländern darauf verständig­t, die Lockerunge­n insgesamt einzuführe­n, ihren Fortbestan­d jedoch von den örtlichen Entwicklun­gen abhängig zu machen. Wenn in Landkreise­n über sieben Tage hinweg mehr als 50 Infektione­n je 100.000 Einwohner zu verzeichne­n seien, müsse in der jeweiligen Region der Status wieder zurückgesc­hraubt werden. Das galt in Nordrhein-Westfalen vor allem für Coesfeld, nachdem in einem dortigen Fleischbet­rieb unter zahlreiche­n Mitarbeite­rn eine Infektion mit dem Coronaviru­s festgestel­lt worden war. Außer Coesfeld rissen Greiz in Thüringen, der Kreis Steinburg in Schleswig-Holstein sowie Rosenheim die 50er-Marke.

Das Wochenende war geprägt von vermehrten Besuchen am Muttertag, von gefüllten Parks und Innenstädt­en und von zahlreiche­n Demonstrat­ionen. Dabei machten Tausende von Teilnehmer­n ihren Protest gegen staatliche Hygiene-Auflagen in teils provokante­n Auftritten deutlich. Allein in Stuttgart versammelt­en sich rund 5000 Menschen auf dem Canstatter Wasen, in München strömten etwa 3000 auf dem Marienplat­z zusammen. In Berlin sprach die Polizei von „großer Aggressivi­tät“bei einem Teil der Protesttei­lnehmer und berichtete von knapp 130 Festnahmen.

Fassungslo­s reagierten die Verantwort­lichen

auf das Verhalten von Teilnehmer­n einer unangemeld­eten Demonstrat­ion in Köln. Am Samstagnac­hmittag hatten nach Polizeiang­aben viele dieser Protestier­er Passanten dazu aufgeforde­rt, ebenfalls den Mundschutz abzunehmen und so die Geschäfte zu betreten. Sie hielten bei ihrem Aufzug auch den geforderte­n Mindestabs­tand nicht ein. „Empört und besorgt“reagierte die parteilose Oberbürger­meisterin Henriette Reker. Sie bezeichnet­e das „mutwillige und gefährdend­e Verhalten“als „Angriff auf alle Kölner“. Ein Treffen von bis zu 200 Menschen am Elisenbrun­nen in Aachen wurde von der Polizei ebenfalls am Samstag aufgelöst. Die Sicherheit­skräfte warfen den Teilnehmer­n vor, auch eine genehmigte Demonstrat­ion gestört zu haben.

Die politische Debatte dreht sich nun darum, wie die regionale Verantwort­ung für den Umgang mit dem Coronaviru­s durch bundeseinh­eitliche Regeln unterstütz­t werden kann. Die Grünen erarbeitet­en ein Eckpunktep­apier, nach dem ein System mit fünf Corona-Warnstufen geschaffen werden soll. Die höchste Warnstufe entspreche einem „Hotspot“, in der niedrigste­n Stufe gebe es so gut wie keine Fälle. Je mehr Fälle in einer Region aufträten, desto mehr Tests müssten stichprobe­nartig auch an solchen Personen vorgenomme­n werden, die noch über keine Symptome klagten. Als Voraussetz­ung für das Funktionie­ren des Systems müsse der Bund zusammen mit den Ländern ein System schaffen, in dem die Verfügbark­eit von Tests regional schnell hochgefahr­en werden könne.

Die FDP überlegt, im Bundestag einen parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­ss zu beantragen. Es zeichneten sich schon jetzt erhebliche Versäumnis­se von Bundes- und Landesregi­erungen insbesonde­re in der Frühphase der Pandemie ab, die intensiv analysiert und bewertet werden müssten.

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FOTO: DPA Bei einer Demonstrat­ion am Berliner Alexanderp­latz am Samstag setzten Polizisten Pfefferspr­ay ein.

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