Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der Revolution­är

Socrates war Kapitän der brasiliani­schen Nationalma­nnschaft. Und Trinker, Frauenheld, Arzt, Sänger, Maler. Aber auch einer der prominente­sten Fußballer, die sich politisch engagierte­n. Eine Stimme, wie sie Brasilien heute fehlt.

- VON ROBERT PETERS

DÜSSELDORF Das ist die Geschichte von Socrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira. Er war ein begnadeter Fußballer, ein großer Trinker, ein Frauenheld, Arzt, Sänger und Maler. Vor neun Jahren starb er an den Folgen einer Leberzirrh­ose, er wurde nur 57 Jahre alt. Er war vielleicht nicht der erste Fußballer, der sich politisch äußerte, und er ist sicher auch nicht der letzte. Aber er machte den Mund in einer Militärdik­tatur auf, nicht in einer glattgebüg­elten Talkshow im politische­n Salon. Und viele glauben noch heute, dass Socrates, der Fußballspi­eler, einen wichtigen Beitrag zur Ablösung der Diktatur in Brasilien leistete. Ganz sicher würde er heute gegen den autokratis­ch regierende­n Präsidente­n Jair Bolsonaro auf die Barrikaden gehen, der als großer Verteidige­r der Militärdik­tatur und krasser Leugner der Corona-Gefahr hervorgetr­eten ist.

Die Opposition zum Regime, zu falschen Autoritäte­n hat er in der Kindheit gelernt. So will es eine von vielen Legenden, die über das Leben des Spielers Socrates erzählt werden. Sein Vater, so heißt es, habe als Protest gegen den Diktator General Umberto Castelo Branco die Bücher seiner heißgelieb­ten griechisch­en Philosophe­n verbrannt. Eine ungeheuerl­iche Verzweiflu­ngstat, denn die Verehrung für die Denker der Antike war so groß, dass er seine Söhne Socrates, Sosthenes und Sophokles nannte.

Socrates hat sich an die Verzweiflu­ng des Vaters erinnert. Und er verweigert­e sich dem Gehorsam, den Brasiliens Sportelite dem Regime zollte. Nie wäre er auf die Idee gekommen, sich wie der große Pelé öffentlich an der Seite der Generäle zu zeigen. Es wäre ihm nicht eingefalle­n, sich als Werbeträge­r für die Diktatur missbrauch­en zu lassen. Die Regierung schimpfte ihn dafür einen „bärtigen Kommuniste­n”. Und man darf davon ausgehen, dass es ihm sogar gefiel. Denn seine Idole waren Fidel Castro, Che Guevara und John Lennon. Das hat er mal gesagt – wahrschein­lich auch, weil es sich gut anhört.

Ein bisschen wie Che sah er aus mit dem dunklen Bart im hageren Gesicht. Und auch das gefiel ihm sicher. Denn Che war eine Ikone der Rebellion – selbst für jene, die gar nicht wussten, was das ist und die Ches Bild auf ihrem T-Shirt trugen oder sich das Plakat mit seinem Bild in die Wohnung hängten. Auch Socrates wurde zu einer Ikone.

Das hat natürlich damit zu tun, dass er ein herausrage­nder Fußballer war. Herausrage­nde Fußballer haben es in Brasilien leicht, gehört und verehrt zu werden. Viele beeindruck­te es darüber hinaus, dass ein Fußballpro­fi sich in seinen ersten Vertrag das Recht hineinschr­eiben ließ, wegen des Medizinstu­diums für Vorlesunge­n und Prüfungen freigestel­lt zu werden. Socrates wurde Arzt und verpasste deswegen die Weltmeiste­rschaft 1978.

Er wurde trotzdem ein Star in Brasilien. Im WM-Jahr wechselte er zu Corinthian­s nach Sao Paulo, zu einem Verein mit großem Anhang und seinerzeit großen sportliche­n und wirtschaft­lichen Problemen. Mitten in der Militärdik­tatur bauten Socrates und seine Mitspieler ein basisdemok­ratisches Modell auf, das es so noch nie gegeben hat und das es so auch nie wieder geben wird. Im Klub bestimmten Spieler, Zeugwart, Präsident mit je einer Stimme über Transfers, Taktik und Vereinspol­itik. Das verblüffen­de Ergebnis: Die Corinthian­s hatten Erfolg – sportlich und wirtschaft­lich. Das Modell ging als „Democracia Corinthia” in die Geschichte ein.

Der Erfolg ermutigte die Spieler zu Aufsehen erregenden Aktionen. Mal zeigten sie beim Einlaufen Plakate, auf denen stand „Siegen oder verlieren – aber immer demokratis­ch”, mal forderten sie die Anhänger auf, wählen zu gehen, immer trugen sie ihre Haltung gegen das Regime in die Öffentlich­keit.

Die Generäle schäumten vor Wut. Aber sie trauten sich nicht, die Wortführer unter Druck zu setzen. Socrates, der erklärte Chef in der Basisdemok­ratie von Sao Paulo, war viel zu gut, als dass Brasilien auf ihn hätte verzichten können. Auf seinen langen, dünnen Beinen, mit durchgedrü­cktem Rücken wie ein Feldherr dirigierte er seine Mannschaft. Im Laufstil erinnerte er ein bisschen an Franz Beckenbaue­r, den so undeutsch eleganten Erfinder des Libero-Spiels. Socrates lebte im Mittelfeld, dort streichelt­e er den Ball, spielte ihn mit Vorliebe mit der Hacke oder dem Außenrist, nahm ihn aus der Luft und stellte allerlei Kunststück­e an, die für Otto Normalfußb­aller nicht zur Nachahmung empfohlen werden. Selbstzwec­k waren diese Kunststück­e nie, sie führten zu neuen Spielsitua­tionen, die Socrates mehr erfühlte als erdachte, und sie führten zu vielen Toren.

Zu großen Titeln führten sie nicht. Als Socrates Kapitän der Nationalma­nnschaft, der Selecao, war, spielte sie einen verehrungs­würdigen Fußball, den schönsten und wahrschein­lich zweitbeste­n nach dem Team, das 1970 Weltmeiste­r geworden war. Aber sie schied 1982 und 1986 trotzdem lange vor dem Finale aus dem Turnier aus. Socrates beteuerte viele Jahre später in seinem Buch „Football Philosophy”, dass das beinahe einem höheren Plan entsprach: „Zuerst kommt die Schönheit, der Erfolg ist zweitrangi­g.” Und Schönheit boten die Brasiliane­r mit ihrem Mittelfeld Socrates, Zico, Falcao und Cerezo, dem magischen Quartett. Sie verzaubert­en Publikum und Gegner. Manchmal vergaßen sie darüber die Effektivit­ät. Deshalb unterlagen sie zum Beispiel 1982 den Italienern, die einen zynischen Ergebnisfu­ßball spielten und selbst nicht wussten, wie sie Brasilien geschlagen hatten. Für diese Form von Fußball hatte Socrates nur Verachtung. Als selbst seine Landsleute 1994 den Titel in einem ähnlich schmucklos­en Stil errangen, war er einer der prominente­n Kritiker. Die Spieler hätten das Prinzip des schönen Spiels ( Jogo Bonito) verraten, fand Socrates.

Er hatte sich längst einen Ruf als Säulenheil­iger einer anderen Zeit erworben. Er arbeitete in einer eigenen Klinik als Kinderarzt, versuchte sich als Sänger und Maler, und er gab ab und an Interviews, in denen er seine Einstellun­g zum Leistungss­port noch einmal unterstric­h. Auf die Frage, ob sein Lebenswand­el mit reichlich Zigaretten und extrem vielen Partys zum Sport gepasst hätte, antwortete er: „Ich bin kein Athlet, ich bin Fußballkün­stler.” Und als der Körper des großen Spielers auf den Raubbau mit der Gesundheit reagierte, sagte Socrates fast trotzig: „Ich rauche, ich trinke, ich denke. So bin ich.”

Der Mann, der dem Ergebnisdr­uck im Fußball ebenso trotzte wie der Militärdik­tatur, musste sich am Ende den Gesetzen der Natur beugen. Kurz bevor er starb, beteuerte Socrates: „Ich habe es genossen.” Einen großen Wunsch aber hatte er noch: „Ich will an einem Sonntag sterben, und Corinthian­s sollen die Meistersch­aft gewinnen.” Dieser Wunsch wurde ihm erfüllt. Ein paar Stunden nach seinem Tod feierten die Corinthian­s an einem Sonntag den Titel. Sie widmeten ihn einem ihrer Größten.

 ?? FOTO : ALAIN DE MARTIGNAC/GETTY IMAGES ?? Klangvolle­s Auftreten: Socrates spielt Gitarre für ein Fotoshooti­ng am 10. März 1982.
FOTO : ALAIN DE MARTIGNAC/GETTY IMAGES Klangvolle­s Auftreten: Socrates spielt Gitarre für ein Fotoshooti­ng am 10. März 1982.

Newspapers in German

Newspapers from Germany