Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Ich rechne mit 30.000 Insolvenze­n“

Der Insolvenze­xperte über die Folgen der Krise für Unternehme­n, Arbeitsmar­kt und das Wirtschaft­sleben.

- GEORG WINTERS FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Bähr, Sie sind einer der bekanntest­en Insolvenze­xperten und etwa für Esprit tätig. Was bedeutet die Corona-Krise für Ihre Arbeit?

BÄHR Die Arbeitsbel­astung ist bei meinem Team und mir eigentlich immer hoch. Die Tätigkeit als Insolvenzv­erwalter fordert, wenn man der Aufgabe gerecht werden möchte, große zeitlich Hingabe. Das ist wie bei einem Arzt, der operiert. Der kann dem Patienten auf dem OP-Tisch auch nicht einfach sagen: „Tut mir leid, ich muss jetzt mit meiner Frau in die Oper“. Tatsächlic­h erwarte ich aber, dass wir Insolvenzv­erwalter in Zukunft noch mehr zu tun bekommen.

Haben wir für die Bewältigun­g der Krise überhaupt genug Experten?

BÄHR Es gibt in Deutschlan­d nach meiner Einschätzu­ng mindestens 2000 profession­elle Rest-rukturieru­ngsund Insolvenze­xperten. Viele von uns verfügen über große Teams von langjährig tätigen Mitarbeite­rn, die im Umgang mit Krisensitu­ationen sehr erfahren sind. Was die personelle Ausstattun­g angeht, sehe ich deshalb kein Problem auf uns zukommen. In großen Anwaltskan­zleien können zudem unproblema­tisch Experten auch aus anderen Praxisgrup­pen hinzugezog­en werden.

Die Bundesregi­erung setzt die Insolvenza­ntragspfli­cht bis Ende September aus. Ist das eine vernünftig­e Lösung, wenn Unternehme­n schon kurz vor der Zahlungsun­fähigkeit stehen?

BÄHR In der gegenwärti­gen Situation, in der ganzen Branchen über Nacht die kompletten Umsätze weggebroch­en sind, ist die Aussetzung der Insolvenza­ntragspfli­cht durchaus sinnvoll. Andernfall­s wäre eine große Zahl von Unternehme­n verpflicht­et, sofort einen Insolvenza­ntrag zu stellen. Damit ist aber niemandem geholfen, ganz zu schweigen von der hohen Zahl an Arbeitslos­en, die wir dann in Deutschlan­d sofort hätten. Allerdings wird die Gefahr einer Insolvenzw­elle dadurch nicht gebannt, sondern nur in die Zukunft verschoben. Denn viele Unternehme­n werden die Umsätze, die ihnen durch die Schließung­en entgehen, nicht oder nicht ganz nachholen können. Gleichzeit­ig bleiben die Verbindlic­hkeiten bestehen. Der Gesetzgebe­r hat nur die Möglichkei­t geschaffen, einzelne Verbindlic­hkeiten wie etwa Mieten vorübergeh­end zu stunden. Zudem müssen auch die Darlehen, die nun unter erleichter­ten Bedingunge­n aufgenomme­n werden können, irgendwann zurückgeza­hlt werden. Dies werden insbesonde­re Unternehme­n, die bereits vor der Pandemie mit wirtschaft­lichen Problemen zu kämpfen hatten, nicht schaffen.

Womit rechnen Sie?

BÄHR Seit 2010 ist die Zahl der Unternehme­nsinsolven­zen in Deutschlan­d kontinuier­lich gesunken, bis auf knapp 19.000 im vergangene­n Jahr. Das wird sich jetzt rapide ändern. Ich persönlich rechne für das kommende Jahr mit mehr als 30.000 Unternehme­nsinsolven­zen und einer Arbeitslos­enzahl zwischen vier und fünf Millionen.

Auch die Bundesregi­erung ist seit kurzem sehr skeptisch. Wie ordnen Sie diese Krise im Vergleich zu vorangegan­gen der Bereich Fashion, Hotels, Gastronomi­e, Tourismus, Kultur, Sport. Selbst die kleine Tanzschule in meinem Viertel kann im Moment nicht öffnen. Hinzu kommt, dass eine allgemeine „Schockstar­re“einsetzt. Niemand investiert mehr. Der zwischenze­itlich negative Ölpreis spricht für sich.

Liegt das alles nur an Corona?

BÄHR Natürlich ist die Pandemie der maßgeblich­e Grund für die aktuellen Probleme. Aber jetzt zeigt sich auch, dass es sich viele Unternehme­n in den letzten Jahren zu „gemütlich“gemacht haben. Der lange Wirtschaft­saufschwun­g und die niedrigen Zinsen haben viele strukturel­le Probleme verdeckt. Unternehme­n waren in vielen Fällen nicht gezwungen, ihre Prozesse und Produkte laufend zu verbessern und sich zukunftsfä­hig aufzustell­en. Deshalb werden viele den Wandel auch nicht überleben. Corona bringt das Fass jetzt zum Überlaufen.

Wie verändert Corona aus Ihrer Sicht das Wirtschaft­sleben?

BÄHR Vor allem das Verhalten der Verbrauche­r wird sich einschneid­end verändern. Viele Menschen werden sich stärker als bisher etwa vom Bargeld verabschie­den. Der Online-Handel wird nach meiner Überzeugun­g jetzt seinen endgültige­n Durchbruch erleben. Die Innenstädt­e werden nach der Pandemie anders aussehen als heute.

Inwiefern?

BÄHR Die Leerstände in den Zentren werden deutlich steigen, weil viele Handelsunt­ernehmen in die Insolvenz gehen werden. Entspreche­nd werden auch die Immobilien­preise erst einmal sinken. Insgesamt wird es eine große Vermögensu­mverteilun­g geben. Darin liegt aber auch genau unsere Chance. Durch die Krise sind wir gezwungen, uns wieder wettbewerb­sfähiger aufzustell­en, kreativer nach innovative­n Produkten zu suchen, den Umweltschu­tz noch stärker in unsere Entscheidu­ngen einzubinde­n und vielleicht auch wieder härter zu arbeiten.

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