Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Manche Impfgegner leiden eindeutig an Paranoia“
Der Virologe ist Vorsitzender der Ständigen Impfkomission. Er zweifelt daran, dass es schnell einen Impfstoff gibt, ist aber sicher, dass die meisten ihn sich spritzen lassen würden.
Herr Professor Mertens, Virologen stehen momentan im Mittelpunkt der Republik. Empfinden Sie das auch so?
MERTENS Ich persönlich weniger, aber dass wir insgesamt so im Fokus stehen, ist tatsächlich neu. Es ist schon ein Vorteil, dass sich jetzt viele Menschen – wenn auch nur ansatzweise – damit beschäftigen und verstehen, was wir so machen.
Aber hat es auch Nachteile?
MERTENS Ja, wir werden für Dinge verantwortlich gemacht, die aber Entscheidungen der Politik waren und sind. Virologen beraten ja nur, wenn überhaupt.
Aber manche Virologen haben sich ungewöhnlich weit aus dem Fenster gelehnt.
MERTENS Ja, leider auch über die Grenzen ihrer Kompetenz hinaus. Das betrifft aber nur wenige. Andererseits muss ich sagen, dass wir ja auch fortwährend von Journalisten gelöchert werden, was es denn Neues und Berichtenswertes gibt. Diesen Fragedruck sind viele Wissenschaftler nicht gewöhnt, sie halten ihn nicht immer aus und lassen sich zu Aussagen verleiten.
Es ist aber unsere Aufgabe, zu fragen.
MERTENS Ja, aber der schreibenden Zunft fällt es berufsbedingt schwer, zu ertragen, dass es nicht immer etwas Neues gibt und dass viele Dinge, auch das Erarbeiten von Wissen, Zeit brauchen und reifen müssen. Wir müssen alle begreifen, dass wir derzeit auch Umgang mit Nichtwissen praktizieren. Manchmal sind vorgeschriebene Wege einzuhalten. Da kann man nur bedingt beschleunigen, auch wenn man sich das momentan natürlich wünschen möchte.
Es wird also noch dauern mit dem Impfstoff?
MERTENS Natürlich wird es dauern. Das ist derzeit eine schwierige Baustelle, obwohl es schon viele wissenschaftlich sehr interessante Ansätze und auch erste Versuche am Menschen gibt. Es ist einfach sehr, sehr kompliziert, einen Impfstoff herzustellen, der wirklich sicher ist, gut wirkt und dessen Wirkung berechenbar lange anhält. Da kann man nicht einfach mal so loslegen.
Warum ist die Baustelle so schwierig?
MERTENS Weil man noch keine umfassenden Antworten zu Sars-CoV-2 geben kann. Manche glauben, das zu können, ich kann es nicht. Es ist ein für die Menschheit komplett neues Virus, gegen das es keine Basisimmunität gibt, anders als bei Influenza und anderen Infektionskrankheiten.
Was wissen wir denn sicher?
MERTENS Wir wissen, dass es sich auf jeden Fall aggressiver und schneller verbreitet als sein Vorgänger SarsCoV-1. Das liegt auch daran, dass es sehr oft von Patienten übertragen wird, die keine oder noch keine Symptome zeigen.
Das ist offenbar eine Spezialität von Sars-CoV-2?
MERTENS Genau, obwohl es dafür nur ein relativ kleines Zeitfenster gibt, nämlich die Tage rund um den Beginn der Symptome. Danach nimmt die Infektiosität deutlich ab. Diese Spanne reicht aber, dass jemand das Virus maximal effektiv weitergeben kann. Also auch, wenn man selbst gar nicht merkt, dass man infiziert ist. Das ist anders als bei Sars-CoV-1.
War die deutsche Antwort auf die Pandemie richtig?
MERTENS In den meisten Aspekten war sie goldrichtig. Angela Merkel hat vieles sehr gut kommuniziert. Die meisten Menschen haben begriffen, welche Maßnahme in welchem Moment sinnvoll war. Man merkte das auch an den internationalen Reaktionen auf Merkels Verhalten. Sie ist halt Wissenschaftlerin.
Wie geht es wohl im Sommer weiter?
MERTENS Das kann keiner wissen und keiner seriös beantworten. Vielleicht schwächt sich zunächst alles ab, und wir bekommen trotzdem eine zweite Welle im Herbst. Darüber zu spekulieren, das wäre wie Locken drehen auf einer Glatze.
International wurde aber auch Schweden gelobt, die in Wirklichkeit gerade ein großes Problem haben.
MERTENS Da stimme ich Ihnen zu. Da wurde zu wenig getestet. Es wurde auch in Krankenhäusern wenig Prävention betrieben, und es fehlte an vielem. Dort ist die epidemiologische Situation aber nicht vergleichbar. Schweden hat rund zehn Millionen Einwohner auf etwa 450.000 Quadratkilometern, also 23 Einwohner pro Quadratkilometer. Deutschland hat 350.000 Quadratkilometer und zehn Mal so viele Menschen pro Quadratkilometer. Etwa 40 Prozent der Schweden wohnen in nur drei Städten mit über 100.000 Einwohnern. Schweden ist ein großes Risiko eingegangen, und jetzt haben sie wirklich fast halb so viele Sterbefälle wie wir.
Nervt es Sie, dass jetzt schon die Impfgegner in Deutschland Sturm laufen, obwohl es noch gar keinen Impfstoff gegen das Coronavirus gibt?
MERTENS Ich habe kein persönliches Problem mit Impfgegnern, ich bin nicht kontaktscheu. Die laden mich ja auch zu Kongressen ein, und ich gehe da auch ganz gerne hin. Außerdem gibt es nicht den Impfgegner als solchen. Es gibt intelligente Leute, die sich wirklich kluge Gedanken machen, über die man trefflich streiten kann. Es gibt aber auch Leute, die eindeutig an Paranoia leiden.
Und Menschen, die einem Irrglauben nachrennen – dass nämlich eine Infektion mit einem Virus ebenso ungefährlich und immunisierend sei wie eine Impfung. MERTENS Und natürlich gibt es immer welche, die gern Radau machen. Aber insgesamt hat die Zahl der sogenannten Impfgegner in Deutschland nicht zugenommen, das wüsste ich.
Aber manche glauben wirklich, Bill Gates wolle die Weltherrschaft an sich reißen, wenn er der WHO und ganz vielen Gesundheitsprojekten Geld gibt.
MERTENS Es hat keinen Zweck, mit solchen Leuten zu reden. Bill Gates tut enorm viel für die Gesundheitsvorsorge der Weltbevölkerung. Ich sehe ihn als echten, seltenen Philanthropen. Mit Machtstreben hat das gar nichts zu tun.
Glauben Sie eigentlich, dass sich in Deutschland viele Menschen gegen das Coronavirus impfen lassen würden?
MERTENS Ja, die Rate wird hoch sein, denke ich. Die meisten vernünftigen Menschen werden das tun, aber die hört man ja momentan nicht so gut, weil vernünftige Menschen eigentlich eher leise sind.
Was wäre das Ziel einer Impfung?
MERTENS Wie bei jeder anderen Impfung auch: Wir impfen nicht primär, um Infektionen zu verhindern, sondern Krankheiten nicht ausbrechen zu lassen oder um günstigere Krankheitsverläufe zu erreichen. Eine Infektion mit dem Coronavirus wird es halt sehr oft geben, aber wenn Impfschutz besteht, reagiert die Immunabwehr, durch die Impfung stimuliert, sehr präzise in ihrer Antwort auf den Erreger und verhindert eine Erkrankung.
Ebenso wichtig könnte es aber auch sein, die Behandlung während einer Infektion zu optimieren. MERTENS Richtig, aber auch hier steht die Forschung erst am Anfang. Um gezielt zu behandeln, muss man die Krankheitsentstehung nach der Infektion genau verstanden haben. Es gibt ermutigende Ansätze und Untersuchungen, welches Medikament auf welche Weise welche Verbesserung bewirkt. Aber ob das alles so bestätigt werden kann, muss durch entsprechende Studien gezeigt werden. Derzeit kann das noch kein Mensch sagen.
Wann wissen wir mehr?
MERTENS Lassen Sie uns im Herbst noch mal telefonieren.
WOLFRAM GOERTZ FÜHRTE DAS INTERVIEW.