Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Nein, nein, niemals!
1920 bekam Ungarn einen Friedensvertrag diktiert, der das Land zerstückelte. Die „Tragödie von Trianon“ist bis heute nicht verwunden.
Die Wolken hängen tief, und es ist ungewöhnlich kühl für die Jahreszeit, als am 4. Juni 1920 sechs Männer im Gänsemarsch über den knirschenden Kies im Park von Versailles marschierten. Vorbei an einer Ehrenformation der französischen Armee mit aufgepflanztem Bajonett steuert die kleine Gruppe das einst vom Sonnenkönig Ludwig XIV. in Auftrag gegebene barocke Lustschloss Grand Trianon an. Fotos der Szene zeigen eine Delegation ganz in Schwarz, mit Stehkragen, Frack und Zylinder, die Mienen versteinert. Die Abgesandten wissen, was sie erwartet. Kurz darauf werden Ungarns Wohlfahrtsminister Ágost Benárd und der Pariser Botschafter Alfréd
Drasche-Lázár ihre Unterschriften unter einen von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs diktierten Friedensvertrag setzen, der ihr Land zerstückelt. Bis heute, genau ein Jahrhundert später, haben viele Ungarn diese „Tragödie von Trianon“nicht verwunden.
Ungarn gehörte als Teil der Habsburger Doppelmonarchie an der Seite Österreichs zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs. Und so wurde Ungarn ähnlich wie die anderen „Mittelmächte“Deutschland, Österreich, Bulgarien sowie das Osmanische
Reich neben Reparationen auch zu
Gebietsabtretungen gezwungen.
Die fielen im Falle Ungarns besonders gravierend aus, denn Rumänien, die Tschechoslowakei und das neue Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (das spätere Jugoslawien) wollten sich dort bedienen. Und die vier führenden Siegermächte ließen das zu. Durch Trianon verlor das Land zwei Drittel seines
Territoriums sowie ein Drittel seiner ungarischsprachigen Bevölkerung an die Nachbarstaaten. In diesen leben heute etwa 2,5 Millionen Ungarn, die meisten davon in Rumänien mit knapp 1,5 Millionen Menschen. Die übrigen verteilen sich auf die Slowakei, Serbien,
die Ukraine, Kroatien,
Slowenien und Österreich. Die Reaktion auf Trianon in Ungarn glich der deutschen Empörung über das „Diktat von Versailles“. Mit ähnlich düsteren Folgen: Die ungarische Politik radikalisierte sich, schnell wurden Sündenböcke gefunden, die angeblich die Nation verraten hatten: die Juden. Bald nachdem Konteradmiral Miklós Horthy in Budapest die Macht ergriffen hatte, erließ Unantisemitischen garn die ersten Gebevor setze – lange dies auch in Nageschah. zi-Deutschland
Horthys gesamte Politik zielte auf die Revision von Trianon. „Nem, nem, soha!“(„Nein, nein, niemals!“) lautet die trotzige Parole aus jener Zeit. Niemals, so die Botschaft, wollten sich die Ungarn mit der Verstümmelung ihres Landes abfinden. Auch deswegen ging Horthy später ein Bündnis mit Hitler ein, der dafür sorgte, dass Ungarn 1938 wenigstens einen Teil der abgetretenen Gebiete – den Norden Siebenbürgens und den Süden der Slowakei – zurückerhielt. Aber da Ungarn auch nach dem ZweiWeltkrieg ten wieder auf der Seite der Verliestand, rer schrumpfte es auf den Rumpfstaat von 1920 zurück.
Als Ungarn nach 1945 wie seine osteuropäischen Nachbarn hinEisernen ter dem Vorhang vermochte schwand, diese Zäsur wie ein historischer Schlussstrich unHadern ter dem mit Trianon wirdem ken. Aber nach Fall der Mauer zeigte sich schnell, dass diese Gevergehen schichte nicht will. Heute begegnet man in Ungarn der DarGroßungarns stellung wieder auf Schritt und Tritt. Der Umriss des verlorenen Königreichs pappt als Aufkleber an Autokotflügeln, er prangt auf T-Shirts, dient ausgeSchlüsselanhänger stanzt als und ziert manche Wohnzimmerwand. „Trianon“ist die Chiffre, mit der in Ungarn eine nationalistische Politik
gemacht wird, die immer wieder erhebliche Spannungen mit den Nachbarn auslöst. Die fühlen sich durch die Großungarn-Rhetorik aus Budapest ebenso provoziert wie durch einige Maßnahmen der ungarischen Regierung.
So führte die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán direkt nach ihrem Amtsantritt 2010 einen nationalen Trianon-Gedenktag ein, den „Tag des nationalen Zusammenhalts“– über die Grenzen Ungarns hinweg. Denn zugleich wurde eine Bestimmung in die Verfassung aufgenommen, wonach der Staat auch für die Ungarn zuständig ist, die als Minderheiten in den Nachbarländern leben. Eine Gesetzesreform erleichtert es Angehörigen dieser Minderheiten seither, die ungarische Staatsbürgerschaft anzunehmen, ohne ihre bisherige Nationalität aufgeben zu müssen. Das führte insbesondere mit der Ukraine, wo rund 150.000 Ungarn leben, zu einem handfesten Konflikt, weil ungarische Behörden fleißig Pässe an diese Menschen ausgaben, obwohl die Ukraine keine doppelten Staatsbürgerschaften akzeptiert. Auch die Slowakei protestierte mehrfach gegen Orbáns Politik.
So weit, offen die Revision des Trianon-Vertrags und damit die erneute Verschiebung von Grenzen zu fordern, geht Orbán wohlweislich nicht. Aber er streut weiter Salz in die 100 Jahre alte Wunde. Ungarn, so lautet die Botschaft, muss sich nichts sagen lassen, weil ihm einst großes Unrecht widerfahren ist.
Und so wird mit einem historischen Trauma weiter Politik gemacht – zum Schaden des europäischen Zusammenhalts. Den letzten handfesten Krach gab es mit Rumänien. Ausgelöst wurde er in diesem Fall allerdings von Rumäniens Präsident Klaus Johannis. Der beschuldigte Ende April öffentlich die größte Oppositionspartei Rumäniens, die Sozialdemokraten, sie strebten gemeinsam mit Vertretern der ungarischen Minderheit heimlich eine Abtretung Siebenbürgens an Ungarn an. Orbán reagierte darauf, indem er auf seiner Facebook-Seite das Foto eines historischen Globus postete, der das Königreich Ungarn in den Grenzen vor 1918 zeigte.
Damit nicht genug: In Bukarest trat Mitte Mai das Parlament zusammen und beschloss mit großer Mehrheit die Einführung eines neuen nationalen Festtags. Künftig wird auch Rumänien am 4. Juni des Trianon-Vertrags gedenken.