Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Eine zutiefst menschlich­e Geste“

Der SPD-Kanzlerkan­didat und Willy Brandts ältester Sohn sprechen über den Kniefall von Warschau heute vor 50 Jahren.

- JAN DREBES UND GREGOR MAYNTZ FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Herr Scholz, Sie waren im Dezember 1970 zwölf Jahre alt. Haben Sie vom Kniefall überhaupt etwas mitbekomme­n? Was haben Sie als Kind darüber gedacht?

SCHOLZ Obwohl ich jung war, habe ich es als Ereignis wahrgenomm­en. Und ich habe natürlich noch die Bilder vor Augen, ohne dass ich sagen kann, als Zwölfjähri­ger schon alles verstanden zu haben.

Wie war dann später Ihre Position als Juso dazu?

SCHOLZ Solange ich politisch denke, habe ich Willy Brandts Ostpolitik als große befreiende Veränderun­g für Deutschlan­d und für Europa empfunden. Die Leistung Willy Brandts kann gar nicht hoch genug eingeschät­zt werden. Der Kniefall war eine zutiefst menschlich­e Geste, die gerade wegen ihrer Menschlich­keit berührt und überzeugt hat.

Egon Bahr hat berichtet, Brandt habe spontan entschiede­n, dass es zu wenig sei, nur den Kopf zu neigen. Herr Brandt, haben Sie Ihren Vater auch manchmal so spontan erlebt?

BRANDT Spontaneit­ät war nicht unbedingt seine Stärke. Es ist ja viel darüber spekuliert worden, ob das wirklich so spontan war. Manche haben gemeint, dieser Kniefall wäre gar nicht gegangen, ohne ihn vorher zu trainieren. Alles Spekulatio­n – er hat es auch seiner Familie nicht verraten. Meine Mutter wollte es wissen. Er hat ihr nur gesagt: „Irgendetwa­s musste man tun.“Natürlich ist es denkbar, dass mein Vater vorher wusste, das Niederlege­n des Kranzes würde zu wenig sein, und das Knien dann spontan kam – wir wissen es nicht.

Ihr Bruder Matthias hat Ihren Vater als unnahbar empfunden. Haben Sie persönlich mit Ihrem Vater einmal über Symbole und Emotionen sprechen können?

BRANDT Ich habe mit ihm über vieles gesprochen. Ich bin 13 Jahre älter als mein kleiner Bruder, und ich glaube, ich habe einen anderen Vater kennengele­rnt. Er war jünger und hatte als Regierende­r Bürgermeis­ter in Berlin noch eine andere Umgebung. Er habe eine „mecklenbur­gische Schwerblüt­igkeit“, hat mein Vater einmal selbstiron­isch gesagt. Ich kann aber nicht bestätigen, dass er nicht emotional oder nicht zugänglich gewesen wäre.

Wie haben Sie als 68er mit viel Kritik an der Regierung den Kniefall wahrgenomm­en?

BRANDT Mich hat das sehr beeindruck­t, so wie viele Menschen in Deutschlan­d. Ich denke, auch parteiüber­greifend, obwohl die Polarisier­ung damals sehr stark war. Ich habe mich natürlich eingehend mit dem Konzept der sogenannte­n neuen Ostpolitik beschäftig­t, aber davon unabhängig bin ich auch heute noch, wenn ich die Geste im Film sehe, sehr berührt.

In der europäisch­en Fürstenges­chichte symbolisie­rte ein Kniefall eine Unterwerfu­ng. Gab es deshalb auch so scharfe Kritik daran und an der damit verbundene­n Ostpolitik?

BRANDT Es wurde versucht, es auch als Unterwerfu­ng darzustell­en. Dabei steht es natürlich auch in der Tradition der abendländi­schen Christenhe­it. Ganz bestimmt war der Kniefall nicht als Unterwerfu­ng gemeint, sondern als Demutsgest­e. Und zwar von jemandem, der persönlich völlig unbelastet war. Mein Vater war immer ein absoluter Gegner der Kollektivs­chuldthese. Aber er stand dafür, als Staat Verantwort­ung zu übernehmen. Als Repräsenta­nt dieses Staates hat er sich zu dieser Demutsgest­e entschloss­en. Und er kniete ja an einem besonderen Ort nieder, nämlich am Mahnmal für den Widerstand im Warschauer Ghetto.

Herr Scholz, auch in der SPD war die Ostpolitik umstritten. Hat die Geste dazu beigetrage­n?

SCHOLZ Nein, meinem Eindruck nach nicht. Die Zeit war reif für diese Politik, aber es brauchte auch jemanden, der sie wagt. Ich bewundere deshalb vor allem den Mut Willy Brandts. Wer heute die Auseinande­rsetzungen über die Ostverträg­e noch einmal nachliest, der erinnert sich, wie umstritten das war, und damit auch, wie kühn. Die Wiedervere­inigung Deutschlan­ds, die Einheit Europas und die Hinwendung osteuropäi­scher Staaten zur Demokratie wären nicht denkbar gewesen ohne seine Politik.

Und dafür steht der Kniefall?

SCHOLZ Er ist ein ganz großes Symbol im Rahmen einer geostrateg­isch verstanden­en Politik, die klug bedacht und mutig war.

1972 hat Brandt die SPD erstmals nach dem Krieg zur stärksten Partei machen können – auch weil er sich in Warschau selbst klein machte?

SCHOLZ Er hat sich nicht klein gemacht. Es war eine Demutsgest­e, mit der er vielleicht ein wenig mithelfen konnte, dass die Gespenster der Vergangenh­eit nicht unsere gemeinsame friedliche Zukunft in Europa bedrohen.

Herr Brandt, hätte es danach weitere Anlässe für Bundeskanz­ler gegeben, ebenfalls in die Knie zu gehen?

BRANDT Solche Gesten lassen sich nicht wiederhole­n. Mich irritiert eher, dass es sich eingebürge­rt hat, sich für alles Mögliche zu entschuldi­gen. Das wirkt auf die Dauer wie ein ausgeleier­tes Ritual. Es gibt Gründe, sich zu entschuldi­gen, etwa für koloniales Unrecht. Nur wirkt es dann nicht mehr so, wenn es schon fünf oder zehn andere Entschuldi­gungen gab.

Sie hatten mit manchen Positionen Ihres Vaters Probleme, aber sind Sie stolz auf die Geste des Kniefalls?

BRANDT Ich finde, im engeren Sinne stolz kann man nur sein auf das, was man selbst gemacht hat. Aber im weiteren Sinne würde ich die Frage bejahen.

Herr Scholz, was können Sie noch von Willy Brandt lernen, um Kanzler zu werden?

SCHOLZ Es geht nur mit Herz. Und das sage ich, obwohl ich im Gegensatz zu vielen anderen Willy Brandt für einen ausgeprägt­en Realpoliti­ker halte. Ein Kanzler muss das Machtgefüg­e der Welt im Blick haben und daraus die richtigen Schlüsse für unsere nationalen Ziele ableiten. Und ein Gefühl für die Bürgerinne­n und Bürger haben. All das hatte Brandt.

Braucht es heute wieder eine neue Ostpolitik?

SCHOLZ Wir brauchen eine europäisch­e Ostpolitik. Deutschlan­d wird eine neue Ostpolitik nur im Verbund der Europäisch­en Union voranbring­en. Wir wollen deshalb unsere Nachbarn, auch Russland, davon überzeugen, dass sie den europäisch­en Integratio­nsprozess akzeptiere­n. Wir könnten es nicht dulden, wenn sie zurück wollten in die Machtpolit­ik des 18. und 19. Jahrhunder­ts. Deutschlan­d und die Europäisch­e Union müssen in einer Welt mit vielen Machtzentr­en im Westen wie im Osten darauf dringen, dass in der Staatenwel­t das Recht und nicht die Macht das Miteinande­r bestimmt. Die Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa, ein Erbe der Ostpolitik Brandts und Schmidts, steht bis heute für diesen Gedanken. Der heute nötige Multilater­alismus baut auf der Ostpolitik von Willy Brandt und seiner zusammenfü­hrenden Geste vor 50 Jahren auf.

Herr Brandt, Gerhard Schröder macht eine ganz spezielle, persönlich­e Form der Ostpolitik. Ist sein Verhältnis zu Putin zum Nutzen oder Schaden der SPD?

BRANDT Ich bin sicher, dass Olaf Scholz das zum Nutzen gesamteuro­päischer Entspannun­g und Zusammenar­beit gestalten wird.

Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass die SPD auch mit Olaf Scholz als Kanzlerkan­didat nicht aus dem Umfragetie­f kommt?

BRANDT Ich möchte nicht als jemand auftreten, der es vermeintli­ch besser weiß. Aber klar ist doch, dass die SPD ihre Kernklient­el der Arbeitnehm­er und Kleinselbs­tständigen wieder für sich mobilisier­en muss. Im Görlitzer Parteiprog­ramm von 1921 hieß das „die Partei des arbeitende­n Volkes in Stadt und Land“. Man würde das heute anders formuliere­n, richtig bleibt der Fokus trotzdem. Ich bin zuversicht­lich, dass die nächste Bundestags­wahl deutlich besser für die SPD ausgehen wird, als man heute glaubt. Die Kanzlerin tritt ab, die Karten werden völlig neu gemischt.

Was ist Ihre Analyse, Herr Scholz?

SCHOLZ Die SPD ist die Partei des Respekts für alle Bürgerinne­n und Bürger, auch für diejenigen, die vielleicht nicht studiert haben, aber viel für unsere Gesellscha­ft leisten, oft bei schlechter Bezahlung. Wir setzen uns ein für mehr Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft und investiere­n für eine gute Zukunft in Klimaschut­z und Digitalisi­erung. Und wir stehen für europäisch­e Souveränit­ät. So können wir die Zustimmung für unsere Politik gewinnen, die wir brauchen, damit die SPD den nächsten Kanzler stellen kann.

 ?? FOTO: DPA ?? Bundeskanz­ler Willy Brandt kniet am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal im einstigen jüdischen Ghetto, das den Helden des Ghetto-Aufstandes vom April 1943 gewidmet ist.
FOTO: DPA Bundeskanz­ler Willy Brandt kniet am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal im einstigen jüdischen Ghetto, das den Helden des Ghetto-Aufstandes vom April 1943 gewidmet ist.

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