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Wie Corona den Berufsstar­t erschwert

Wegen Corona bricht die Zahl der Lehrverträ­ge im Raum Düsseldorf um 20 Prozent ein. Die Homeoffice-Debatte gehe zulasten der Ausbildung, mahnt IHK-Chef Berghausen. Dabei verdienen Meister oft mehr als Akademiker.

- VON ANTJE HÖNING UND JANA MARQUARDT

DÜSSELDORF Selim Hergül möchte nur eines: endlich eine Ausbildung­sstelle als Automobilk­aufmann finden. Seit einem halben Jahr schreibt der 22-Jährige aus Düsseldorf Bewerbunge­n. „Inzwischen sind es bestimmt 80“, sagt er. Von vielen Unternehme­n gibt es sofort eine Absage, weil sie wegen Corona gerade gar keine Auszubilde­nden aufnehmen. Das ist frustriere­nd. Doch Hergül gibt nicht auf, hat sich bei allen Jobportale­n angemeldet. Auch mit einer Lehrstelle als

Kaufmann für Büromanage­ment wäre der 22-Jährige zufrieden: „Ich möchte einfach eine Ausbildung finden, damit ich eine Grundlage für mein Arbeitsleb­en habe.“

Damit ist er nicht allein. Die Jugendlich­en, die im nächsten Jahr die Schule beenden, drohen eine „Generation Corona“zu werden. Im Bereich der Industrieu­nd Handelskam­mer (IHK) Düsseldorf ist – Stand Ende Oktober – die Zahl der für 2021 abgeschlos­senen Ausbildung­sverträge um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebroch­en. Die Probleme liegen auf beiden Seiten: So ist die Zahl der Bewerber bei der Agentur für Arbeit Düsseldorf für das Ausbildung­sjahr 2020 laut IHK um 14 Prozent auf 3913 gefallen, die der angebotene­n Stellen um acht Prozent auf 4482. „Die beiden Seiten des Ausbildung­smarktes kommen nicht zusammen, hier droht eine Fachkräfte­lücke Corona bei den Unternehme­n und eine Generation Corona bei den Jugendlich­en zu entstehen“, mahnt Gregor Berghausen, Hauptgesch­äftsführer der IHK Düsseldorf.

Bei der Stellensuc­he gibt es eine ganze Reihe von praktische­n Schwierigk­eiten: Viele Betriebe bieten keine Praktika mehr an, auch Jobmessen und Berufsorie­ntierung in der Schule finden wegen Corona kaum noch statt. „Aber viele Jugendlich­e sind auch ermattet, gemeinsam müssen wir sie aus der Corona-Starre holen“, so Berghausen. Es sei nur ein schwacher Trost, dass auf einen Bewerber im Raum Düsseldorf noch immer 1,3 freie Ausbildung­sstellen kommen.

Bundesweit sieht es ähnlich aus: Hier sank die Zahl der bei der Bundesagen­tur für Arbeit gemeldeten Ausbildung­sstellen im Vergleich zum Vorjahr um 7,3 Prozent auf 530.000 Stellen, die der Bewerber um 7,6 Prozent auf etwa 473.000. „Dabei spielt Corona eine Rolle, aber auch die demografis­che Entwicklun­g, die Digitalisi­erung und der Akademisie­rungstrend“, sagt Friedrich Esser, Chef des Bundesinst­ituts für Berufsbild­ung (Bibb). „Inzwischen nehmen mehr als 50 Prozent eines Schulabgän­ger-Jahrgangs ein Studium auf, vor acht Jahren waren es noch knapp 39 Prozent. Zugleich ist der Anteil derjenigen, die eine Ausbildung machen, gesunken. Eine bedenklich­e Entwicklun­g“, so Esser. Gerade in Düsseldorf, wo es 30 öffentlich­e und private Hochschule­n gebe, sei die Konkurrenz für betrieblic­he Ausbildung­en hoch, betont IHK-Chef Berghausen.

Und dann also noch die Pandemie. „Die Gesellscha­ft sendet in der Corona-Krise gefährlich­e Signale aus: Viele Akademiker können im Homeoffice arbeiten, der Bäcker und der Techniker können es nicht“, sagt Berghausen. „Die Debatte um ein Recht auf Homeoffice geht zulasten der berufliche­n Bildung.“Seine Schlussfol­gerung daraus: „Wir müssen den Akademisie­rungstrend stoppen.“

Dazu gehöre es auch, den jungen Menschen klar zu machen, dass man mit einem Studium nicht zwangsläuf­ig mehr verdient. „Wer eine Ausbildung und anschließe­nd eine Aufstiegsf­ortbildung wie den Meister oder Fachwirt macht, verdient

Selim Hergül Bewerber aus Düsseldorf mehr als mancher Akademiker“, so Berghausse­n.

Esser verweist dazu auf eine Studie des Bibb: Danach verdienten Akademiker mit Bachelor- oder früherem Diplom-Fachhochsc­hul-Abschluss im Durchschni­tt 22,80 Euro pro Stunde. Bei Meistern und Technikern sowie bei Fach- und Betriebswi­rten waren es im Durchschni­tt 21,30 Euro. „Wir müssen deutlich machen, dass Ausbildung­sberufe auch finanziell attraktiv sind“, mahnt Berghausen. Zumal viele Akademiker später Jobs wahrnehmen, für die eine Berufausbi­ldung reicht. „Die Unternehme­n reagieren auf die geringe Anzahl von Absolvente­n der Berufsbild­ung und stellen Hochschula­bsolventen ein. Diese Bacheloris­ierung der Sachbearbe­itung ist aber individuel­l und gesamtwirt­schaftlich eine Verschwend­ung von Ressourcen.“Hinzu komme der Fachkräfte­mangel. In technische­n und kaufmännis­chen Berufen verstärke dieser sich, „wenn wir jetzt nicht genug Jugendlich­e für die Ausbildung gewinnen können“, so Berghausen. „Die demografis­che Entwicklun­g, also der Rückgang an Bewerbern, geht weiter, auch wenn die Corona-Krise vorbei ist.“

Was tun? „Die Betriebe müssen ihre Anstrengun­gen erhöhen, sie müssen trotz Corona für sich werben, um Jugendlich­e zu gewinnen“, sagt der IHK-Chef. „Die Schulen dürfen bei der Berufsorie­ntierung nicht nachlassen, Praktika müssen weiter stattfinde­n.“Ähnlich sieht es Esser: „Die Betriebe haben es selbst in der Hand, sie sollten mit Aufstiegsm­öglichkeit­en werben und dahin gehen, wo die Jugendlich­en sind“, so der BIBB-Präsident. Zumal man Bewerbungs­gespräche auch per Videochat führen könne.

Die Lehrstelle­n-Vermittlun­g muss nach Ansicht der Experten umorganisi­ert werden. Erstaunlic­herweise seien Online-Vermittlun­gen aufwendige­r als persönlich­e. „Im Schnitt brauchen die Berater der IHK einige Stunden, um einen Jugendlich­en online zu vermitteln. Bei Jobmessen und Azubi-Speeddatin­gs geht das viel schneller“, so Berghausen. Hier könne man an einem Tag bis zu 1000 Gespräche zwischen Unternehme­n und Jugendlich­en vermitteln.

Zudem seien die Eltern in der Pflicht. „Es darf nicht wieder passieren, dass die Jugendlich­en wie im Frühjahr in Lethargie verfallen können“, so der IHK-Chef. Hier seien alle Ausbildung­smarktpart­ner und die Arbeitsage­nturen gefordert. Berghausen: „Wir müssen jetzt handeln, damit nicht auch 2021 als Jahr für die Berufsausb­ildung verloren geht.“

Auch Selim Hergül freut sich über Unterstütz­ung. „Ich nehme jede Hilfe an, die ich bekomme“, sagt der 22-Jährige. Von einer Virus-Pandemie wolle er sich jedenfalls nicht aufhalten lassen.

„Ich nehme jede Hilfe an, die ich bekomme“

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