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Martin Schläpfer triumphiert auch in Wien
Mit vielen früheren Düsseldorfern feierte der Choreograf seinen Einstand in Österreich – wegen des Lockdowns aber nur im Live-Stream.
WIEN Es ist schon viel gesagt worden über den schmerzlichen Verlust der Live-Erfahrung in diesen Corona-Zeiten. Und es ist auch schon genug und zu Recht geklagt worden über die Sterilität von gestreamten Vorstellungen ohne Publikum. Alles richtig. Und doch kann es gelingen, aus dieser Verlusterfahrung, diesem Getrennt-Sein vom Lebendigen, künstlerisches Kapital zu schlagen. Nämlich dann, wenn sich die künstlerische Aussage durch die triste Leere sogar zu verstärken scheint.
Und genau das gelingt Martin Schläpfer bei seinem Einstand an der Wiener Staatsoper durch eine exemplarisch aufgezeichnete Aufführung seiner Uraufführung „4“auf Mahlers 4. Sinfonie – in Kombination mit Hans van Manens visionärer Medien-Studie „Live“für ein aneinander scheiterndes Tänzer-Paar und einen Kameramann von 1979. Die Kombination dieser beiden maximal kontrastreichen Arbeiten ist wohl auch deshalb so stark, weil gerade Mahlers Musik, von der Theodor W. Adorno schrieb, sie plädiere „gegen den Weltlauf“, so schmerzlich aktuell ist.
Seit September ist Martin Schläpfer Chef des Wiener Staatsballetts und muss seinen auch mit einer Prise Skepsis erwarteten Neustart unter härtesten Corona-Bedingungen realisieren. Seine Entscheidung, ausgerechnet nach Wien zu gehen, hat nicht wenige verwundert, denn das Staatsballett ist klassisch orientiert, während Schläpfer für einen abstrakten Stil steht, Individuen statt uniformer Gruppen inszeniert und auch gerne Neutöner vertanzt. Das passt zwar in die vitale Wiener Avantgarde-Szene und zu Ensembles wie dem Klangforum Wien, mit dem Schläpfer künftig auch zusammenarbeiten will. Aber bislang wohl kaum in das ehrwürdige, konservative Haus am Ring.
In Wien muss Schläpfer nun einen Riesenapparat lenken, der nach völlig anderen Prinzipien geordnet ist als das Ballett am Rhein, wo die Kompanie nicht hierarchisch organisiert war, sondern nur aus Solisten bestand. In Wien aber sind die Hierarchien im Ensemble nach wie vor etabliert, es gibt Erste Solisten, Solisten, Halbsolisten und das Corps de
Ballet; und zudem sind unter dem Dach „Wiener Staatsballett“zwei Kompanien versammelt: die ungleich größere der Staatsoper und die der Volksoper, die auch die Sparten Oper, Operette und Musical bedienen muss.
In der Probenzeit zu „4“gab es 17 positive Corona-Fälle im Staatsballett, die Quarantäne-Zeiten kosteten zehn kostbare Probentage. Schläpfers Choreografie veränderte sich durch die Ausrichtung auf die Kameras, auch die fehlenden Probentage ließen letztlich nur eine einzige Szene zu, in der alle 103 Mitglieder beider Kompanien gemeinsam auf der Bühne waren – geplant waren ursprünglich drei.
Der Abend beginnt mit Hans van Manens erstem und ästhetisch taufrisch gebliebenen Videoballett der Theatergeschichte mit Olga Esina und Marcos Menha und dem Kameramann Henk van Dijk (alle drei grandios). Im leeren Opernhaus spielen einige Szenen im Foyer, am Schluss verschwindet Olga Esina draußen auf der kaum belebten, dunklen Ringstraße. Beklemmend.
Nach van Manens puristischer Einsamkeitsstudie bevölkert sich das Opernhaus zumindest im Graben: Seit den Salzburger Festspielen arbeiten die Wiener Philharmoniker mit täglichen Schnelltests, das Spitzenorchester
sitzt mit voller Mahler-Besetzung im Graben, am Pult steht der Düsseldorfer Generalmusikdirektor (GMD) Axel Kober. Auch die Kompanie hat tägliche Tests absolviert, sodass die Abstandsregeln kassiert werden konnten. Bühnenbildner Florian Etti hat einen weiten, schwarzen Raum geschaffen, in dem eine behutsame Lichtregie für Strukturen sorgt und ein leuchtendes Dreieck an der Rückwand als archaisches Zeichen prangt.
Kober gibt im Graben gemäßigt flexible Tempi vor, Schläpfer kommt das episodisch Zerrissene von Mahlers Vierter spürbar entgegen. Die jähen Stimmungswechsel inszeniert er in rasch wechselnden, virtuos verzahnten Bildern. Szenen höchster Intimität, in denen um Existentielles in Zweier-Beziehungen gerungen wird, folgen große Gruppenszenen, die Mahlers derb-volkstümliche Passagen gestisch überbieten und kommendes Unheil, das bei Mahler ahnend aufscheint zu dramatischen, teils brutalen Ausbrüchen verdichten. Schläpfer macht das Brüchige von Mahlers Idyllen sichtbar und zeigt die unheilbare Kluft zwischen Individuum und Masse als ewigen Kreislauf des Scheiterns.
Die neu formierte, technisch exzellente und frappierend elegante Kompanie mit zwölf aus Düsseldorf übernommenen Tänzern wirkt nicht homogen, aber das will Schläpfer auch augenscheinlich nicht, jedenfalls nicht für seine Kreationen. Er hat in einem Interview zu Protokoll gegeben, dass er die Hierarchien „horizontaler denken will“, trotzdem aber auch weiterhin Handlungsballette wie „Giselle“anbieten will, für die er die alte hierarchische Ordnung braucht. Man darf gespannt sein, ob ihm diese Quadratur des Kreises gelingen wird.
Seine erste eigene Kreation lässt eine vibrierende Aufbruchs-Spannung spüren, die Intensität des Abends fängt die technisch perfekte Aufzeichnung mit vielen Nahaufnahmen und einer durchdachten Bildregie sehr gut ein. Die Kameraschwenks über leere Reihen und die schweigenden Verbeugungsrituale ohne Applaus verstärken ganz im Sinne von Mahlers Plädoyer gegen den Weltlauf den berührenden, ja aufwühlenden Gesamteindruck.