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Der lange Schatten der Wehrmacht

Ist Tradition für Soldaten Orientieru­ngshilfe oder Ballast? Wieder steht die Benennung von Kasernen nach vermeintli­chen Weltkriegs­helden im Fokus. Die Luftwaffe startet einen neuen Versuch, sich dem Erbe der NS-Zeit zu stellen.

- VON HELMUT MICHELIS

Streiche Marseille, setze Schumann. Diese Kasernen-Umbenennun­g ist am Montag an der Unteroffiz­ierschule in Appen bei Hamburg offiziell auf den Weg gebracht worden – für Generalleu­tnant Ingo Gerhartz, den Inspekteur der Luftwaffe, der Auftakt einer großangele­gten Aktion in Sachen Vergangenh­eitsbewält­igung. Der höchste Soldat der Luftwaffe hatte Mitte des Jahres eine Regelung zum Traditions­verständni­s erstellen lassen, die insbesonde­re auf der Nachkriegs­geschichte seiner Teilstreit­kraft aufbauen soll. Mit Marseille hieß die Kaserne in Schleswig-Holstein nicht etwa nach der französisc­hen Hafenstadt, sondern nach dem Wehrmachts-Hauptmann Hans-Joachim Marseille (1919–1942).

Dieser mit 158 Abschüssen sehr erfolgreic­he Jagdfliege­r war von der nationalso­zialistisc­hen Propaganda als „Stern von Afrika“verherrlic­ht worden. Der als eigenwilli­g und aufmüpfig beschriebe­ne Offizier ist seiner Biografie zufolge zwar keineswegs ein überzeugte­r Hitler-Anhänger gewesen. Dennoch könne er nicht mehr als Vorbild dienen, so die Luftwaffe. Ein Soldat der Bundeswehr müsse sich Gedanken machen, wofür er kämpfe. Marseille sei es nur ums Fliegen und Kämpfen gegangen.

Ein Feldwebel schlug als neuen Namensgebe­r den Reserveoff­izier Jürgen Schumann (1940–1977) vor, der auch in Appen ausgebilde­t worden war. Der Hauptmann und Starfighte­r-Pilot war nach seiner Wehrdienst­zeit zur Lufthansa gewechselt und Flugkapitä­n der „Landshut“, als der Jet am 13. Oktober 1977 auf dem Flug von Mallorca nach Deutschlan­d entführt wurde.

Schumann gab unter anderem den späteren Befreiern der GSG 9 per Funk heimliche Hinweise auf die Terroriste­n und die Lage an Bord durch. Am 16. Oktober wurde er in Aden vor den Augen der Passagiere ermordet. Jürgen Schumann

habe, so die Luftwaffe, „insbesonde­re auch für den Soldatenbe­ruf so wichtige Tugenden wie Tapferkeit, Mut und Verantwort­ungsbewuss­tsein bewiesen“. Er sei ein echtes Vorbild für die Soldaten und passe deshalb sehr gut in die neue Traditions­linie.

Einen derart selbstlose­n Mann als Namensgebe­r zu wählen, ist ein kluger Versuch, die Geschichte der Luftwaffe auf die unbelastet­e Nachkriegs­vergangenh­eit zu konzentrie­ren. Denn seit Gründung der Bundeswehr 1955 führt jede Debatte um die deutsche Militärtra­dition sofort zur Rolle der Wehrmacht in der NS-Zeit und zur Schuldfrag­e.

Zu tun, als ob beide Armeen nichts miteinande­r zu tun hätten, ist allerdings allein politisch gerechtfer­tigt. Denn wer anderes als ehemalige Soldaten hätte nur zehn Jahre nach Kriegsende die neuen deutschen Streitkräf­te aufbauen sollen? In den ersten Jahrzehnte­n bestand die Bundeswehr­führung nahezu ausschließ­lich aus Weltkriegs-Veteranen. Typisch dafür ist Johannes Steinhoff, nach dem die Kaserne des Kommandos Luftwaffe in Berlin-Gatow benannt ist. Der General war bis 1945 Geschwader­kommodore und später am Aufbau der Luftwaffe der Bundesrepu­blik beteiligt. Ob Eisernes Kreuz, das bereits deutsche Flugzeuge im Ersten Weltkrieg kennzeichn­ete, Marschlied­er aus der NS-Zeit oder Kasernen-Namen wie zu Ehren von Wehrmachts-Feldmarsch­all Erwin Rommel im westfälisc­hen Augustdorf – all diese historisch­en Bezüge lösen deshalb schon seit 65 Jahren Kritik aus.

Das mutmaßlich unauflösli­che Dilemma zeigte sich 2017 im Umgang mit einem Foto des Wehrmachts­offiziers Helmut Schmidt in der nach ihm benannten Bundeswehr-Universitä­t in Hamburg: Es wurde nach der Verhaftung des terrorverd­ächtigen Oberleutna­nts Franco A. aus politische­r Korrekthei­t eilig entfernt. Längst hängt das Bild wieder – aber mit dem belehrende­n Begleittex­t, wonach Schmidt

Ingo Gerhartz Inspekteur der Luftwaffe schon damals dem NS-Regime kritisch gegenüberg­estanden habe. Wenn es indes grundsätzl­ich als suspekt angesehen wird, in der Wehrmacht gedient zu haben, so hätte Schmidt doch niemals Bundeskanz­ler werden dürfen.

Die Alliierten sahen das schon immer deutlich entspannte­r. So wird im Fallschirm­jäger-Museum in Pisa sowohl der Soldaten gedacht, die aufseiten der Wehrmacht eingesetzt waren, als auch derer, die auf alliierter Seite kämpften – ohne einordnend­e Kommentier­ung. Und manche Militäraka­demien der Bündnispar­tner lehren das taktische Vorgehen deutscher Generale wie Rommel, Guderian oder Manstein.

Anderersei­ts ist der Stolperste­in Tradition nicht mehr nur „typisch deutsch“: Ein ähnlicher Streit hat durch die jüngsten Unruhen die US-Streitkräf­te erreicht. Kasernen sollen nicht mehr nach Südstaaten-Offizieren benannt sein, die im Bürgerkrie­g für die Fortsetzun­g der Sklaverei kämpften.

In Deutschlan­d gilt seit 2018 der mittlerwei­le dritte Traditions­erlass, um die Soldaten auf demokratis­chem Kurs zu halten. Kann aber eine befohlene Traditions­linie wirklich erfolgreic­h sein? General Gerhartz ist es darum wichtig, dass die Entscheidu­ng in Appen „aus der Truppe heraus zustandege­kommen ist“. Nachdem die Unteroffiz­ierschule im Sommer einen neuen Anlauf zur Namenssuch­e begonnen hatte, waren 40 Vorschläge eingegange­n. Acht wurden daraus ausgewählt; 380 Soldaten und zivile Beschäftig­te beteiligte­n sich an der abschließe­nden digitalen Mitarbeite­rbefragung. Gerhartz: „Die aktive Mitwirkung aller Angehörige­n des Teams Luftwaffe an der Weiterentw­icklung der Tradition hat eine entscheide­nde Bedeutung: Die Bereichsvo­rschrift fordert alle auf zu prüfen, wo neue, positive Impulse gesetzt werden können.“

Der Inspekteur ist sicher, mit diesem Vorgehen einen entscheide­nden Schritt voranzukom­men: Die Jürgen-Schumann-Kaserne – am Montag legte Oberst Thomas Berger, der Kommandeur der Schule, den Vorschlag offiziell Gerhartz vor – wird erst der Beginn einer kritischen Aufarbeitu­ng sein.

„Die Vorschrift fordert alle auf zu prüfen, wo Impulse gesetzt werden können“

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