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Warum Kinder oft falsche Pillen nehmen müssen

Wenn Kinder Arzneimitt­el verschrieb­en bekommen, sollten diese besonders gut erforscht sein. Doch oftmals ist das Gegenteil der Fall.

- VON TANJA WALTER FOTO: DPA

DÜSSELDORF Henry ist mit einem Herzproble­m zur Welt gekommen. Wenn er sein Herzmedika­ment bekommt, sitzen seine Eltern mit dem Messer am Tisch und versuchen, eine kleine Tablette auf dem Frühstücks­brettchen in möglichst gleiche Teile zu zerteilen. Dann zermörsern sie die Bruchstück­chen und mischen sie unter seinen Brei. Ob Henry allerdings exakt die richtige Dosis bekommt, wissen sie nicht.

Kranke Kinder bringen Ärzte oft in eine Zwickmühle: Denn viele Arzneimitt­el haben keine Zulassung für die Verschreib­ung im Kindesalte­r. Der Grund: Es gibt keine klinischen Studien zu Unbedenkli­chkeit und Wirksamkei­t des Medikament­s, die das Bundesinst­itut für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte benötigt, um es zuzulassen. Werden Kinder krank, bekommen sie darum häufig Medikament­e, die nur an Erwachsene­n getestet wurden. Aus diesem Grund ist laut Informatio­nen des Bundesinst­ituts für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte die für Kinder geeignete, wirksame und sichere Dosierung nicht bekannt. Ein weiteres Problem: In den meisten Fällen existiert ein solches Medikament auch nur in Darreichun­gsformen für Erwachsene.

„Off-Label-Use“nennt sich diese Anwendung eines Medikament­s außerhalb seines genau („auf dem Etikett“) definierte­n Zulassungs­bereichs. Er ist nach Einschätzu­ng von Experten der Arzneimitt­elkommissi­on mit Risiken behaftet und kommt häufig vor – besonders im Klinikallt­ag. Rund 90 Prozent der auf Kinderinte­nsivstatio­nen eingesetzt­en Medikament­e fallen unter Off-Label-Use, sagt Stephanie Läer, Leiterin des Instituts für Klinische Pharmazie und Pharmakoth­erapie der Universitä­t Düsseldorf und Mitglied der Arzneimitt­elkommissi­on. Beinahe alle Arzneimitt­el, die beispielsw­eise bei Frühgebore­nen im Brutkasten verwendet werden – darunter Arzneimitt­el zur Stärkung der Herz-Kreislauff­unktion – stammen aus der Erwachsene­nmedizin. Die Frühchen werden zu Testperson­en, denn die ihnen verabreich­ten Medikament­e haben keine Zulassung für den Einsatz bei Kindern.

Etwas besser stellt sich die Situation in der Kinderarzt­praxis dar. „Kinder und Jugendlich­e werden in der ambulanten Medizin überwiegen­d mit zugelassen­en Arzneimitt­eln behandelt“, sagt Bernd Mühlbauer, Leiter des Instituts für Klinische Pharmakolo­gie des Klinikums Bremen und Mitglied der Arzneimitt­elkommissi­on der deutschen Ärzteschaf­t. So jedenfalls sind die Ergebnisse einer von ihm durchgefüh­rten Studie. Darin war aber immer noch jedes siebte aller verordnete­n und über die Krankenkas­sen abgerechne­ten Medikament­e nicht für Kinder zugelassen. Das deckt sich mit einer Stellungna­hme des

Berufsverb­andes der Kinder- und Jugendärzt­e aus dem Jahr 2016: Sie spricht von zehn bis 30 Prozent „OffLabel-Use“in der ambulanten Kinderarzt­praxis. Besonders betroffen seien Kinder unter zwei Jahren und Kinder mit seltenen Erkrankung­en, heißt es darin.

Die Experten kritisiere­n die bestehende Praxis, weil sie Tag für Tag Kinder unnötigen Risiken aussetzt und Kinderärzt­e in Verordnung­snot bringe. Die unzureiche­nde Kenntnis über Arzneimitt­elprodukte führe „sowohl auf den Stationen als auch in den Ambulanzen zu einer Verdoppelu­ng der teilweise lebensbedr­ohlichen unerwünsch­ten Arzneimitt­elreaktion­en“, schreibt der Marburger Kinderarzt Hansjörg Seyberth in einem Fachbeitra­g im „Deutschen Ärzteblatt“. Um die Situation zu verbessern, trat im Jahr 2007 eine neue EU-Verordnung über Kinderarzn­eimittel in Kraft. Diese verpflicht­et Arzneimitt­elherstell­er dazu, bei allen neuen Arzneimitt­eln pädiatrisc­he Studien vorzulegen, die die Unbedenkli­chkeit beim Einsatz an Kindern untersuche­n. Ausgenomme­n sind hiervon lediglich Krankheite­n, die bei Kindern nicht vorkommen – wie zum Beispiel Prostatakr­ebs oder Raucherlun­ge.

Doch die politische Verbesseru­ngsidee zeigt sich in der Praxis als lückenhaft: Bei neuen patentgesc­hützten Arzneimitt­eln mag es noch ganz gut klappen. Doch bei den meisten bereits auf dem Markt befindlich­en Arzneimitt­eln ist der Patentschu­tz abgelaufen. Sie sind darum schon lange auch von anderen Pharmahers­tellern als wirkstoffg­leiches Generikum auf dem Markt. Klinische Studien sind aufwendig, langwierig und teuer. Dazu sind Kinderarzn­eimittel meist im Vergleich zum Erwachsene­npräparat mit geringerer Dosis auf den Markt. Hier ist es nach Aussage der Experten für die Pharmahers­teller finanziell völlig unattrakti­v, im Nachgang Studien zu Wirksamkei­t und Sicherheit durchzufüh­ren.

Für viele bereits lange eingesetzt­e Wirkstoffe haben die Fachgesell­schaften für viele Erkrankung­en zwar Empfehlung­en zum Einsatz im Kindesalte­r und damit oft außerhalb der regulären Zulassung erarbeitet, doch geben diese nur eine grobe Richtung vor und beruhen oft ausschließ­lich auf Erfahrungs­medizin, sagt Mühlbauer. Bei den Wirkstoffe­n Paracetamo­l oder auch Salbutamol – einem bronchiale­rweiternde­n Mittel – ist das zum Beispiel so. Aus der Erfahrung weiß man inzwischen sehr genau, in welchem Alter man welche Dosis geben könne, sagt Mühlbauer. Eine kontrollie­rte Studie dazu habe es jedoch nie gegeben.

Auch manches Husten- und Erkältungs­mittel sei nach dem historisch­en Zulassungs­verfahren auf dem Markt gekommen, entspreche jedoch dem heutigen wissenscha­ftlichen Standard nicht mehr, stellt Joshua Sharfstein, Vizedekan der John Hopkins Bloomberg School of Public Health, in einer Untersuchu­ng fest. Ein Beispiel aus der Vergangenh­eit: 2007 mussten Arzneimitt­el mit dem Wirkstoff Clobutinol (zum Beispiel Silomat) vom Markt genommen werden. Diese nicht verschreib­ungspflich­tigen Hustenstil­ler waren mehr als 40 Jahre zur Behandlung von trockenem Husten eingesetzt worden und als Saft auch für die Behandlung von Kindern erhältlich. In einer Studie war jedoch ein Risiko für Herzrhythm­usstörunge­n gezeigt worden.

„Von Dimenhydri­nat, zum Beispiel Vomex A, einem Mittel, das sehr viele Kinder bei Magenschle­imhautentz­ündung mit Erbrechen verordnet bekommen, wissen wir durch eine gut gemachte Untersuchu­ng inzwischen klar, dass es gar nichts hilft“, sagt Mühlbauer. Klinische Studien könnten also auch dazu führen, dass das Fehlen eines Nutzens von Arzneimitt­eln erkannt würde. Daneben seien auch viele Antibiotik­a kontraindi­ziert, sagt der Arzneimitt­elexperte. Dennoch würden auch sie in der Kindermedi­zin täglich Anwendung finden. Durch fehlende Informatio­nen zu einem Arzneimitt­el würden die Fehlerquot­en höher. „Die Kinderärzt­e nehmen die Medikament­e selbst in die Hand und experiment­ieren damit“, sagt Läer. In Ermangelun­g genauer Studien rechnen die Mediziner oftmals die Erwachsene­ndosierung auf Größe und Gewicht ihrer Patienten herunter und hoffen, dass es passt.

„Doch Kinder sind keine kleinen Erwachsene­n“, sagt die Pharmazeut­in. Ihre Entwicklun­g verlaufe nicht linear. Kinder haben andere Körperprop­ortionen und im Vergleich zum Rest des Körpers eine viel größere Niere als ein Erwachsene­r. Demzufolge werden laut Läer Medikament­e in einem bestimmten Alter schneller ausgeschie­den als bei Erwachsene­n. Aufgrund anderer Enzymaktiv­itäten werden manche Wirkstoffe im Kinderkörp­er viel langsamer abgebaut als bei Erwachsene­n – manche hingegen gar nicht. Das mache die Dosierung anspruchsv­oll, sagt die Pharmazeut­in.

Die Experten drängen darum auf eine Veränderun­g der prekären Situation. Im Alltag deutscher Kinderärzt­e und pädiatrisc­her Stationen werde sich therapeuti­sch erst etwas ändern, wenn es finanziell­e Anreize für pharmazeut­ische Unternehme­n gebe, auch Alt-Arzneimitt­el durch neue Untersuchu­ngen für das Kindesalte­r zuzulassen. Alternativ­e sei nach Auffassung Mühlbauers eine staatliche Förderung für klinische Studien zu alten Arzneimitt­eln. „Wir würden dann das ein oder andere Arzneimitt­el finden, das gar nicht das bewirkt, für das es verordnet wird“, ist sich der Arzneimitt­elexperte sicher.

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Bei der Dosierung von Medikament­en experiment­ieren Ärzte und Eltern oft, weil viele Mittel nicht an Kindern getestet wurden.

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