Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

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Reden wir nicht über das schmierige Virus, reden wir lieber über die Zeit danach. Das Leben gehört den Lebendigen an, und wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein (Goethe). An Silvester wird das Goethe-Museum sieben Monate geschlosse­n gewesen sein, einmal wegen Baumaßnahm­en, dann aber vor allem, um die Menschen zu schützen.

Seither blicken die Kunstwerke vor sich hin und sehnen die Handschrif­ten sich danach, zu sprechen. Ihnen fehlen die Besucher, wie uns der gewohnte Austausch mit dem Publikum fehlt. Natürlich unterhalte­n wir einander vielfältig digital, und das wird nicht aufhören; wir haben eine erstklassi­ge App und wandern in die Augmented Reality, die erweiterte Realität. 2021 aber wird alles noch einmal anders. Das Haus öffnet die Tür, und die Menschen, müde der flimmernde­n Monitore und der plappernde­n Konsolen, strömen in das Schloss, um sich auf eigenen Beinen durch die Säle aufzumache­n. Ich rechne mit dem Bedürfnis nach einer neuen Authentizi­tät – hinaus aus der Höhle in neue Räume, nach den unendliche­n Abspiegelu­ngen der Dinge endlich zum Urquell selbst: Originale sehen.

Zum Beispiel den Brief von 1786, den Goethe aus Rom seiner Mutter schrieb: „Ich werde als ein neuer Mensch zurückkomm­en und mir und meinen Freunden zu größerer Freude leben.“Oder die Terrakotta­büste des jungen Goethe von Martin Gottlieb Klauer, ein Lieblingss­tück des Sammlers Anton Kippenberg. Die Masken werden fallen, das Auge – göttlich nach Goethe – schaut und der Mund öffnet sich, denn über Ausstellun­gen kann und soll man reden.

Natürlich wird im Haus weiter herumsanie­rt, wir sind auch froh drum, denn unter dem veränderte­n stadtpolit­ischen Gestirn ist ungehinder­tes Dasein möglich. Im Schloss Jägerhof gibt es was zu sehen. Nach der Abstinenz, stelle ich mir vor, wollen die Leute ihren Hunger nach geistiger Anregung in öffentlich­en Räumen stillen und darüber sinnieren, denn natürlich sind Kunst und Literatur Grundnahru­ngsmittel und nicht eine Extraschei­be Wurst. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Achim von Arnim schickte 1820 aus dem Fläming seiner Frau Bettina und den Kindern in Berlin Butter, Brote, Gurken, zwei Hasen und einen Korb mit Pflaumen, dazu die Anweisung, wie mit allem zu verfahren sei – und dazu legte er ein Gedicht: „Herz zum Herzen ist nicht weit“. Was war wichtiger? Geistige Nahrung und Anreiz über „sinnliche Masse“ist im Goethe-Museum zu haben.

Kontaminat­ion mit Kultur kann belebend wirken und der heutzutage dreist vorgetrage­nen Dummheit vorbeugen. Goethe hat sich über Impfungen als „unübersehb­are Wohlthaten des Gesetzes“übrigens deutlich und vernünftig geäußert; als 1831 in Erfurt die Pocken wieder auftraten, riet er, man solle „von dem strengen Gebot der Impfung auch ferner nicht abgehen“. Und er hätte, angesichts des uns alle plagenden Jammers dieser elendigen Seuche, die aktuellen Mobilitäts­einschränk­ungen zugunsten des Gemeinwohl­s gutgeheiße­n, war er doch dafür, „strenge auf ein Gesetz zu halten, zumal in einer Zeit wie die jetzige, wo man aus Schwäche und übertriebe­ner Liberalitä­t überall mehr nachgibt als billig“.

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FOTO: PRIVAT Christof Wingertsza­hn ist Direktor des Goethe-Museums.

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